Opferschrei
Glasvase, die mit Wasser gefüllt war. Keine Karte. Ziemlich schön. Sie konnte nicht anders als sich über den Tisch zu beugen und an der Blüte, die ihr am nächsten war, zu schnuppern und ihren Duft zu genießen.
Wieder Leon? Wieder eins seiner geheimnisvollen Geschenke? Wie die Ohrringe, die ich in meinem Schmuckkästchen entdeckt habe, von denen er behauptet, ich besäße sie seit Jahren und hätte es nur vergessen?
Wenn es so war, sollte sie die Rosen noch nicht finden; sie waren eine Überraschung für heute Abend. Dachte er, es wäre ihr Jahrestag oder ihr Geburtstag? Beides war möglich. Es wäre nicht das erste Mal, dass er die Termine wichtiger Ereignisse durcheinanderbrachte. Lisa erinnerte sich daran, wie er den Valentinstag einmal achtundvierzig Stunden zu früh angekündigt und auf das Sale-Schild im Schaufenster morgen geschrieben hatte. Lisa musste lächeln.
Sie überlegte, ob sie noch einmal den Namen ihres Mannes rufen oder nachschauen sollte, ob er im Schlafzimmer war.
Doch wenn er sich im Schlafzimmer befand, dann weil sie ihn überrascht hatte, als sie unerwartet in die Wohnung zurückgekehrt war, und er nicht wollte, dass sie ihn fand. Er versteckte sich in der Hoffnung, dass sie ihn oder die Rosen nicht entdeckte. Lisa stand da und fragte sich, was sie tun sollte. Sie beschloss, nichts zu tun.
Lass Leon seinen Spaß. Vielleicht weiß er ja, was er tut. Vielleicht hat er ja einen Plan. Wie eine Reise nach Europa oder eine Kreuzfahrt in der Karibik.
Lisa verließ die Wohnung und verriegelte die Tür hinter sich. Heute Abend würde sie so tun, als wären die Rosen eine große Überraschung. Was immer hier vorging, war merkwürdig, aber sie konnte nichts anderes tun, als mitzuspielen.
Erst als sie wieder auf dem belebten Gehweg stand und darauf wartete, dass die Ampel auf Grün schaltete, damit sie eine befahrene Kreuzung überqueren konnte, ließ sie den Gedanken zu: Was, wenn jemand anderes die Rosen in die Küche gestellt hat und ins Schlafzimmer gegangen ist, als ich unerwarteterweise nach Hause zurückgekommen bin?
Jemand anderes als Leon!
»Wer rastet, der rostet, Lady!«
Die Ampel war auf Grün gesprungen. Ein kleiner Mann mit rotem Gesicht versuchte, um sie herumzugehen, und rammte ihr dabei seinen Aktenkoffer in die Hüfte. Ein paar Strähnen seines schütteren schwarzen Haars klebten über seinem ansonsten kahlen Schädel, und er trug einen schicken grauen Anzug und etwas, das aussah wie eine blaue Ascot-Krawatte.
»Wer rastet, der …«
»Den Spruch hab ich ja noch nie gehört«, sagte Lisa. »Ist er urheberrechtlich geschützt?«
Der aufgeregte kleine Kerl tat genau das, was sie auch hätte tun sollen – er ignorierte ihre Bemerkung.
Sie ließ ihn vorbei, und er eilte mit großen Schritten vor ihr her über die Straße.
Hinter ihm konnte Lisa schon das Schild des Petit Poisson erkennen.
Und war diese Frau in dem blauen Kleid etwa Abbey? Dieser Moppel, der gerade ins Restaurant ging?
Wenn ja, dann hat sie zugenommen. Ordentlich zugenommen.
Lisa vergaß die gelben Rosen, während sie ihre Schritte beschleunigte. Sie wollte nicht die Letzte sein, die im Restaurant ankam.
Man könnte sonst über sie reden.
38
Hiram, Missouri, 1989.
Luther sah ihnen beim Schlafen zu. Milford hatte mehr Scotch als sonst nach dem Abendessen getrunken und war beinahe bewusstlos. Er schlief so tief, dass er noch nicht einmal schnarchte. Sein Atem war so gleichmäßig und beständig wie das Meer. Cara schlief nicht ganz so tief neben ihm.
Luther trat näher und konnte sehen, wie sich die zarte Haut ihrer geschlossenen Augenlider bewegte, als sie im Schlaf mit den Augen rollte.
Sie träumt. Vielleicht von mir.
Vielleicht würde er sie aufwecken und mit ihr nach unten gehen oder nach oben in ihr Nest auf dem Dachboden. Oder – und das hatten sie sich noch nie getraut – sie könnten gleich hier neben Milford im Bett Sex haben, im Gleichklang mit Milfords regelmäßigen Atemzügen und seiner Ahnungslosigkeit. Luther zog es in Erwägung; Milford hatte sich nicht gerührt, seit er das Schlafzimmer betreten hatte, vielleicht auch lange davor nicht. Seine Haare waren noch nicht einmal verstrubbelt. Luther konnte Cara mit einem Kuss wecken, eine Hand über ihren Mund legen, um sie ruhigzustellen, falls nötig, und dann …
Sei nicht so dumm!
Luther merkte, dass sein Atem so laut war, dass man ihn hören konnte, und trat vom Bett zurück. Als ob sie seine Gegenwart spürte, hob Cara eine
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