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Opferschrei

Opferschrei

Titel: Opferschrei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Lutz
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herumkrabbeln.
    Er würde auf keinen Fall einschlafen können, und er würde völlig tot sein, wenn er am Nachmittag zur Arbeit ging.
    Wenn er überhaupt zur Arbeit ging. So wie der Tag sich entwickelte, könnte es gut sein, dass er sich krankmeldete. Oder sich den Tag freinahm.
    Jetzt würde er erst einmal aufstehen und sich anziehen. Die Wohnung verlassen und einen Spaziergang machen. Vielleicht in irgendeiner Bar etwas trinken und sich betäuben, den Druck in seinem Inneren abbauen, der immer größer und größer wurde.
    Noch ein bisschen herumlaufen. Vielleicht stundenlang.
    Manchmal, wenn er weit genug lief, wurde es besser.
    Manchmal auch nicht.

37
    Lisa Ide merkte, dass sie ihre Brille vergessen hatte. Sie brauchte sie, um die winzige Schnörkelschrift auf der Speisekarte des Petit Poisson zu lesen, wo sie in einer halben Stunde mit zwei alten Freundinnen vom College verabredet war. Beim Lunch würden sie sich damit vergnügen, über alte Verbündete und Feinde zu plaudern. Vielleicht würden sie Fotos anschauen, alte und neue. Lisa freute sich auf das Treffen; es versprach, eine richtige Weiberrunde zu werden.
    Sie hielt an und trat an die Wand eines Gebäudes, um den Strom der Fußgänger nicht zu behindern. Sie hatte weniger als die Hälfte der Strecke zu ihrer U-Bahn-Station zurückgelegt. Es blieb ihr immer noch genug Zeit, um in die Wohnung zurückzukehren, die Brille zu holen und dann ein Taxi zum Restaurant zu nehmen.
    Nachdem sie sich entschieden hatte, ging sie mit großen Schritten zurück in die Richtung, aus der sie gekommen war. Dann verfiel sie in einen eleganten Laufschritt, um noch über die grüne Ampel an der Kreuzung zu kommen.
    Im Flur vor ihrer Wohnungstür kramte sie ihren Schlüssel aus der Tasche und ließ ihn fallen. Sie erinnerte sich selbst daran, dass sie noch genügend Zeit hatte, hob ihn auf, steckte ihn ins Schloss und öffnete die Tür. In ein paar Sekunden würde sie wieder draußen sein mit ihrer Brille in der Hand.
    Wo ist sie?
    Sie hatte sich letzte Nacht in den Schlaf gelesen, ein Thriller von Michael Connelly, und hatte die Brille vielleicht auf das Buch auf ihrem Nachttisch gelegt, bevor sie das Licht gelöscht hatte und weggedöst war.
    Doch sie hatte nur ein paar Schritte in Richtung Schlafzimmer gemacht, als ihr einfiel, dass sie die Brille am Morgen in der Küche getragen hatte, um die Kalorienangaben auf der Müslischachtel zu studieren. Und später, um eine Telefonnummer in ihrem Adressbuch nachzuschlagen.
    Sie ging zum Telefon, das auf einem Tischchen neben der Tür stand.
    Keine Brille.
    Dann in der Küche. Ich habe sie wahrscheinlich mit zurück in die Küche genommen, als ich mir vor einer Stunde eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank geholt habe. Natürlich! Ich muss die Brille wohl abgelegt haben, als ich beide Hände benutzt habe, um die Plastikflasche aufzuschrauben.
    Als sie zur Küche ging, hörte sie ein leises Geräusch aus dem Schlafzimmer, als ob etwas umgefallen wäre.
    Sie blieb stehen. Leon musste krank geworden und nach Hause zurückgekehrt sein.
    Nein, das passte nicht zu Leon.
    Aber wenn da jemand ist, dann muss es Leon sein.
    Vielleicht war er aus dem Laden zurückgekommen, um etwas zu holen, was er vergessen hatte. Sie war hier, weil sie zerstreut war, warum also nicht auch Leon? »Leon?«
    In der schweren Stille der ruhigen Wohnung wartete sie auf eine Antwort. Es kam keine. Sie rief lauter: »Leon!«
    Okay, er war wohl nicht zu Hause. Das Geräusch aus dem Schlafzimmer war wahrscheinlich von etwas verursacht worden, das umgefallen war – ein Bilderrahmen vielleicht –, oder war aus der Wohnung obendrüber gekommen. Oder sie hatte sich das leise Geräusch nur eingebildet. Es gab viele Möglichkeiten. Und sie hatte jetzt keine Zeit, sich über alles Gedanken zu machen.
    Lisa setzte ihren Weg in die Küche fort. Als sie durch die Tür kam, sah sie ihre Brille sofort neben einem zusammengefalteten Küchenhandtuch auf der Arbeitsfläche liegen.
    Gut! Jetzt muss ich sie mir nur schnappen und schon bin ich wieder weg.
    Als sich ihre Finger um das dünne Metallgestell schlossen, warf sie einen Blick auf die digitale Uhr am Herd. Immer noch genügend Zeit.
    Sie wollte gerade aus der Küche gehen, als sie den Strauß gelber Rosen in der Mitte des Küchentischs bemerkte.
    Sie blieb abrupt stehen, dann ging sie zum Tisch, um den Strauß näher zu betrachten. Es waren sechs gerade erblühte, frisch geschnittene gelbe Rosen in einer schlichten

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