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Opferschrei

Opferschrei

Titel: Opferschrei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Lutz
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zusammengerollt in einer Ecke und hielt ein zusammengefaltetes weißes Tuch in seiner linken Hand. Er lächelte.
    Langsam hob er das getränkte Tuch an seine Nase und sog die Benzoldämpfe tief ein. Benzol war ein Lösungsmittel, das heutzutage nur noch selten verwendet wurde, doch er hatte sich vor langer Zeit daran gewöhnt, sich daran angepasst. Seine Droge der Wahl für lange und kurze Visionen und Reisen in die Vergangenheit.
    Er inhalierte noch einmal und seine Augenlider flatterten. Er war wieder in der Küche der Elzners, holte vorsichtig Lebensmittel aus den Plastiktüten und stellte sie leise auf den Tisch, bevor er sie wegräumte. Wie immer trug er fleischfarbene Latexhandschuhe. Er kicherte und blickte in seinem Traum auf sie herab; sie sahen aus wie echte Finger, nur ohne Fingernägel. Er griff nach der Tunfischdose.
    Und da war Martin Elzner, der Ehemann. Dieses Mal wollte er, dass er dort war, aber er sah aus wie in jener Nacht, an jenem frühen Morgen.
    Elzner war sprachlos, sein Mund stand offen, in seinen Augen leuchteten nacheinander Überraschung, Wut und Angst auf. Seine dunkelblonden Haare waren vom Schlafen ganz verstrubbelt. Waren sie wirklich so abgestanden? Es ließ ihn noch viel überraschter wirken angesichts des Fremden in seiner Küche, der dort Hausarbeit erledigte.
    Der Fremde – der kein Fremder war – stellte die Tunfischdose auf den Tisch. Das plötzliche Auftauchen des Ehemanns in der Küche war auch für ihn eine Überraschung. Und doch war es nicht wirklich eine Überraschung. Er war dazu verdammt, enttäuscht und verraten zu werden. Er wusste, dass es passieren konnte, passieren würde, und er war darauf vorbereitet. Wollte er es sogar?
    Er lächelte.
    Er inhalierte.
    Zurück zu Elzner, der zu überrascht war, um auch nur einen Ton herauszubekommen. Die Angst in seinen Augen wuchs, als er die Pistole mit dem klobigen Schalldämpfer sah. Eine schreckliche Erkenntnis. Er verzog sein Gesicht und drehte sich zur Seite, wobei er eine Hand hob, als ob er ein nervendes Insekt vertreiben wollte, falls es ihm zu nahekam. Der Tod kann wirklich eine Nervensäge sein.
    Geh nah an ihn ran … Schieß ihm nicht in die Hand … Sie sollen glauben, dass er als Zweites gestorben ist … ein Selbstmord. Armes, verwirrtes Geschöpf.
    Die Verräterin würde als Zweites sterben.
    Jetzt war er nahe genug. Die Hand mit der Pistole flog nach oben und war sofort ruhig, wenige Zentimeter von seinem Kopf entfernt. Das befriedigende Putt! der schallgedämpften Pistole klang wie ein winziger Motor, der ein einziges Mal versuchte anzuspringen. Martin Elzner fiel mit einem lauten Poltern auf den Küchenboden.
    Rückwärts, geh rückwärts, so wie du es getan hast. Die Choreografie der Träume.
    Ein plötzliches Klappern. Seine freie Hand hatte die Tunfischdose an den Rand des Tischs geschoben. Genau wie du es getan hast. Wenn das Geräusch, das Elzner verursacht hatte, als er auf dem Boden aufschlug, seine Frau nicht geweckt hatte, dann würde es die Tunfischdose tun, wenn sie hinunterfiel und über die Fliesen rollte.
    Er inhalierte. Er fragte sich, ob die Fliesen Schaden genommen hatten. Der Boden sah tatsächlich ziemlich gut aus. Ein ungewöhnlicher Beigeton mit Sprengseln von …
    Genug. Da war sie. Sie stand im Türrahmen, genau wie es gewesen war. Die unerwartete Wendung in ihrem Leben, das jähe Ende ihrer Vergangenheit und ihrer Zukunft standen ihr ins Gesicht geschrieben. Sie wussten es. Sie wussten es immer.
    Die Hand ohne Tuch wanderte hinab zu seinem Schritt, während sie instinktiv zu ihrem Mann auf dem Boden taumelte – ihre wahre Liebe, ihr Ein und Alles, ihr Lebensgefährte, ihr Todesgefährte. Er zog sie an, zog sie zu sich, die Schwerkraft, die unabwendbare Physik der Liebe, das Ende der Liebe …
    Das Ende der Liebe …
    Nach einer Weile war es Zeit für die zweite Show. Er spielte die Nacht in der Küche der Elzners noch einmal in seinem Kopf ab. Die Macht seines Intellekts beeindruckte ihn, die Kontrolle, die er über seine Erinnerung hatte. Er war an einem Punkt angelangt, an dem er die Rekonstruktion sogar vor- und zurückspulen konnte, als ob er mentale Knöpfe betätigen würde, und dabei zusehen konnte, wie die Bilder seines Erinnerungsspektrums im Schnelldurchlauf vorwärts und rückwärts an ihm vorbeizogen: Stopp, Pause, Wiederholung. Jetzt langsamer – um es aus einem anderen, besseren Blickwinkel zu genießen, zu beobachten, zu durchleben …
    Er packte die Lebensmittel

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