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Opferschrei

Opferschrei

Titel: Opferschrei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Lutz
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berufstätig waren und tagsüber nicht zur Verfügung standen. Fedderman und Drucker sollten heute damit fortfahren, die Nachbarn in den angrenzenden Gebäuden zu befragen, und würden bald in Feddermans schlichtem Ford Victoria vorfahren.
    Quinn schickte sich an aufzustehen, um auf sich aufmerksam zu machen, aber Pearl hatte ihn schon entdeckt und kam auf seinen Tisch zu. Sie trug eine schwarze Hose, schwarze Stiefel, die wasserdicht aussahen, und einen schwarzen Regenmantel, der grüne Nähte hatte und ihr bis zu den Knien reichte. Sie hatte keinen Regenschirm dabei.
    Sie knöpfte den Mantel auf, hängte ihn an einen Messinghaken, der auf der anderen Seite an der Wand angebracht war, und rutschte gegenüber von Quinn in die Bank. Er sah ihr besorgtes Gesicht. »Sie sehen beschissen aus, Quinn.«
    Er wusste, dass er das als Beleidigung verstehen sollte, aber er tat es nicht; immerhin hatte sie recht. »Harte Nacht.«
    Sie verzog ihr Gesicht, als sie einen Hauch seines Atems abbekam. »Und sie riechen wie ein Schnapsladen.«
    »Ich hab gesoffen.«
    Er erklärte, was passiert war. Er erzählte ihr fast alles von seinem nächtlichen Gespräch mit May. Nachdem er einmal angefangen hatte zu reden, konnte er nicht mehr aufhören; die Worte waren wie geflügelte Kreaturen, die unbedingt aus ihm heraus mussten, die gehört und mit jemandem geteilt werden mussten.
    Ihre Reaktion überraschte ihn. »Ihre Manschetten sind offen. Sie haben Ihren Ärmel in den Kaffee gehängt.«
    Quinn blickte nach unten und sah den braunen dreieckigen Fleck auf dem herunterbaumelnden Aufschlag seines weißen Hemdes. Er versuchte, die Manschette mit seiner linken Hand zu schließen, schaffte es aber nicht. Seine Finger zitterten, wie sie es seit Monaten nicht mehr getan hatten.
    Pearl langte über den Tisch und schloss geschickt den Knopf. »Bringt Fedderman heute Drucker mit hierher?«
    »Das ist der Plan«, sagte Quinn.
    »Dann ändern wir den Plan. Es wäre besser, wenn niemand sonst Sie in diesem Zustand sieht. Ich fahre Sie nach Hause.«
    Quinn musste merklich zusammengezuckt sein beim Gedanken daran.
    »Andererseits«, meinte Pearl, »könnte immer noch etwas in der Flasche sein. Sie kommen mit zu mir und holen den Schlaf nach, den Sie letzte Nacht verpasst haben.«
    »Pearl, ich glaube wirklich nicht, dass es so schlimm ist.«
    »Sie sehen aus wie ein verdammter Säufer, Quinn. Kommen Sie.«
    Sie stand auf und griff nach ihrem Mantel.
    Quinn blickte wieder auf seinen befleckten Ärmel und seine zittrigen Hände. In seinem Kopf hämmerte es, und ihm war übel. Er beschloss, sich nicht mit Pearl anzulegen. Kleinlaut folgte er ihr aus dem Restaurant.
    Auf dem Weg zum Auto sagte sie: »Ich denke, Sie brauchen ein richtiges Frühstück anstelle dieses Zucker- und Koffeinschocks, dem Sie sich gerade ausgesetzt haben.«
    Pearl, die sich um ihn kümmerte. Die fürsorgliche Pearl. Quinn kam nicht umhin, sich zu fragen, wohin das wohl führte.
    »Nachdem Sie etwas gegessen haben, hauen Sie sich auf mein Sofa, und ich sage Fedderman und Drucker, dass Sie sich heute nicht wohlfühlen.«
    »Hören Sie, Pearl …«
    »Sie brauchen mir nicht zu danken, Quinn. Und versuchen Sie bloß nicht, mir zu widersprechen. Es ist das Beste, wenn sie den heutigen Tag überspringen und morgen wieder fit sind, anstatt zwei Tage hintereinander wie eine Alkoholleiche herumzulaufen.«
    Weniger als eine Stunde später saß er mit hochgekrempelten Ärmeln an ihrem winzigen Küchentisch, wo sie ihm ein Käseomelette und Toast mit einem Glas Orangensaft – kein Kaffee – servierte.
    Als er sein Frühstück beendet hatte und sich mit ausgezogenen Schuhen auf Pearls Sofa zusammengerollt hatte, kramte sie ein paar Minuten in ihrem Schlafzimmer herum, dann ging sie. Er öffnete ein Auge zu einem schmalen Schlitz und sah, wie sie ihn anlächelte, bevor sie zur Tür hinausverschwand.
    Es war eine bestimmte Art von Lächeln, die Quinn vertraut war, sowohl zärtlich als auch besitzergreifend.
    O Gott, o Gott …, dachte er, und fiel in einen Schlaf, der dunkler war als die Nacht.
    *
    Claire war gerade damit fertig geworden, die Schlafzimmerfenster zu putzen, als es an der Tür klopfte. Das ist komisch, dachte sie. Jemand hatte die Gegensprechanlage umgangen und sich irgendwie Zutritt zur Lobby und zu den Aufzügen verschafft.
    Auf der anderen Seite war es gar nicht so ungewöhnlich. Vielleicht war derjenige, der geklopft hatte, zusammen mit einem anderen Besucher oder einem der

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