Opferschrei
und ihre Anti-Baby-Pille, ihren Atem und ihren Geruch, wenn sie schlief, die Wärme, die ihre Haut abstrahlte, ihre intimen Gedanken, die sie im Schlaf vor sich hin murmelte. Ihre Lieblingsfarben.
Und er wusste alles über die letzte Nacht. Weit mehr, als ein anderer je erfahren würde. Wie er wahrscheinlich genug Lärm gemacht hatte, um sie aufzuwecken. Obwohl sie seinen Besuch genauso gut auch hätten verschlafen können, so wie es die anderen Male der Fall gewesen war. Sie hatten ihn in der Küche überrascht, aber nicht völlig. Auf seine Art hatte er auf sie gewartet, war mit dem Messer neben der Hand dagesessen, mit einem Plan im Kopf, einem Plan, der es erforderte zu handeln, ohne nachzudenken. Ein Plan, der Gerechtigkeit und Ausgleich und Rache zugleich war. Freiheit, zumindest für eine Weile. Flucht und Erlösung, zumindest für eine Weile. Oh ja, er war bereit gewesen für eine Überraschung, als er dasaß mit seiner Klinge und seinem Plan, sein Sandwich aß und Milch dazu trank. Ein nächtlicher Imbiss, der nicht der erste war.
Er war vorbereitet, so wie er es Nacht für Nacht gewesen war. In seinem Leben gab es keine wirklichen Überraschungen. Nur hatten die meisten Leute Schwierigkeiten damit, zu sehen und anzunehmen, was unweigerlich kommen würde. Mary und Donald, alle, wussten es, bevor sie es wussten. Alles, was auf Erden kreuchte und fleuchte, wusste es am Ende, erkannte es am Ende, begrüßte das Ende. Die Totkranken in ihren Krankenhauszimmern. Tiere, die schlaff im Maul ihrer Jäger hingen, geduldig und ungeduldig zugleich.
Ihr Tod ist ein Segen.
In diese Gedanken versunken, hörte der Night Prowler nur mit halben Ohr, was Kay Kemper sagte, während er dasaß und zusah, wie sich ihre glänzenden Lippen bewegten, die Art, wie sie die Vokale artikulierte und unbewusst mit der Spitze ihrer Zunge, so rot , über ihre weißen oberen Schneidezähne fuhr, wenn sie ihre Augen senkte, um einen Blick auf die im Wind flatternden Notizen zu werfen. Eine lose Strähne ihres blonden Haares wehte ihr ins Gesicht, und sie verlor beinahe ihre Notizzettel, als sie sie zurückstrich.
Der Night Prowler fragte sich, ob der Sender sich irgendwann entscheiden würde, was er mit ihren Haaren machen wollte. Sie sollten kürzer sein und mehr an ihrem Kopf anliegen, und bitte ohne Pony! Ihre Lippen waren überraschend beweglich, sie dehnten sich und zogen sich wieder zusammen, wie geschaffen für unnatürliche Dinge, standen nie still, als ob zu viele Nervenbahnen in ihr enden würden: »… waren gerade erst in ihre Wohnung gezogen, rote Zunge , vor zwei Monaten, sahen …, rot … brutal, rot , ermordet, irgendwann letzte Nacht … hervorgerufen durch … sagen, sie hätten nichts gehört … jeder Verdächtige … hoffentlich, rot , die Angst … Detective Quinn war nicht für eine Stellungnahme erreichbar … keine heiße Spur …«
Frank Quinn.
Der Night Prowler streckte seinen Arm aus und stellte sein Wasserglas neben dem Sofa auf den Fußboden. Quinns Name tauchte immer öfter im Zusammenhang mit dem Night Prowler auf. Es wurde schwierig, an den einen zu denken, ohne gleichzeitig den anderen im Kopf zu haben. Ein Team. Zwei Schachspieler. Gegner.
Feinde.
Der Night Prowler wusste, wie man mit Feinden umging. Was er von ihnen zu erwarten hatte. Das war die erste Lektion gewesen, die er in seinem Leben gelernt hatte.
Auf dem Tisch neben dem Sofa stand eine kleine Flasche mit einem Gummistöpsel, daneben lag ein zusammengefaltetes Taschentuch. Der Night Prowler entstöpselte sie und neigte sie vorsichtig, um ein paar Tropfen auf das Taschentuch zu träufeln. Dann nahm er das Tuch legte es leicht über seine Nase und seinen Mund.
Er atmete tief ein. Ein kühler und lautloser Wind umwehte ihn, ohne sich zu bewegen. Wände verschwanden, und Vorhänge schwangen weit auseinander, um den Blick auf Licht und Farbe freizugeben. Die Wahrheit wurde sichtbar, und was nicht sichtbar war, zählte nicht.
Er wünschte sich jetzt, er hätte immer noch seine Pistole. Er hätte sie einfach nie benutzen dürfen; er hätte sie aufsparen sollen, um aus der Ferne zu töten.
Sollte er sich eine andere Pistole besorgen? Es müsste illegal geschehen; der Kauf durfte nirgends registriert werden, und niemand durfte erfahren, dass er im Besitz der Waffe war. Es gab also nur einen Weg. Er musste sie stehlen. Ganz plump das Gesetz brechen.
Er warf seinen Kopf in den Nacken und lachte über die azurblaue Wahrheit dessen. Verfolger
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