Orangentage
Darek ihn nicht mehr gesehen. Jetzt tönten Vaters Schritte aus der Küche, sein Husten, Zeitungsrascheln. Offenbar sah er den Stellenmarkt durch. Das überraschte Darek angenehm, denn er hatte damit gerechnet, dass Vater abends in die Kneipe verschwinden würde, um das bittere Gefühl der Entlassung ordentlich herunterzuspülen. Alkohol war sein gewohntes Mittel zur Bewältigung von Niederlagen. Doch diesmal griff er nicht dazu.
Als Darek wieder vor dem Rechner saÃ, fand er eine neue Nachricht in seinem Postfach. Er öffnete sie und las: Mischa hat mir von deinem Vater erzählt. Das tut mir sehr leid. Mir ist eine Idee gekommen, aber ich mache nichts, bis du sagst, dass du einverstanden bist. Um zehn werde ich oben bei Ludwig sein. H.
Die Uhr im Computer zeigte vier Minuten vor zehn. Das war typisch für Hanka: Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, stellte sie keine Fragen, sondern gab schlichtweg ihre Entscheidungen bekannt. Manchmal, so wie gerade jetzt, in letzter Minute.
Darek stand schnell auf und eilte zur Treppe. Er war barfuÃ, trat aber trotzdem möglichst vorsichtig auf. Wenn man auf der alten Holztreppe nicht achtgab, reagierte sie auf jeden Schritt mit lautem Quietschen. Manchmal knarrte sie auch einfach so, obwohl sie niemand benutzte. Die Geisterpromenade hatte Mutter das genannt. Sie hatte Darek versichert, dass jedes Haus mit Vergangenheit seine Schutzgeister habe, die es bewachten und von Zeit zu Zeit übers Treppenknarren ihre Anwesenheit verrieten. Es klang wie eine Vorlesestunde aus Harry Potter . Darek machte es SpaÃ, vor dem Schlafengehen den Geräuschen im Haus zuzuhören und sich die Maulende Myrte, den Fast Kopflosen Nick und andere, vielleicht noch interessantere Geister vorzustellen. Wenn man an ihre Existenz glaubte, musste man daraus ableiten, dass es sie schon immer gegeben hatte, natürlich auch in der Epoche des Aufbaus des Kommunismus. Logischerweise folgte daraus, dass sie es waren, die den Hof vor dem Abriss gerettet oder zumindest zu seiner Rettung beigetragen hatten. Und wenn jedes betagte Haus Schutzgeister besaÃ, überlegte Darek, dann musste das ganze Land voll davon sein. Und dieser Gedanke war sehr beruhigend.
Die vorletzte Stufe, die lauteste, mit dem Sprung in der Mitte, lieà Darek vorsichtshalber aus. Unten blieb er mit gespitzten Ohren ein paar Sekunden lang stehen. Vater war immer noch in der Küche und raschelte mit der Zeitung.
»Unvorhergesehene Schneeschauer haben den Süden Europas überrascht. Im Hafen von Nizza fielen zwanzig Zentimeter Schnee â¦Â«, vernahm Darek aus dem Küchenradio. Auf Zehenspitzen lief er zur Haustür, ertastete seine Schuhe, klemmte sie sich unter den Arm und stahl sich heraus. BarfuÃ, damit der Kies nicht unter seinen Sohlen knirrschte, huschte er über den Hof. Erst auf der StraÃe zog er die Schuhe an und eilte davon.
Die StraÃe schimmerte im Licht der Laternen. Eine stand oberhalb des Bauernhofs, eine in der Kurve bei der Kneipe, die nächste unten vor der Post. Darek wich den direkten Lichtkegeln aus, bewegte sich im Schatten der Bäume und Hecken. Um die Kneipe machte er einen Bogen, groà genug, dass man ihn vom Eingang aus nicht sehen konnte, erst hinter der Kreuzung kehrte er wieder auf die StraÃe zurück.
In dem Augenblick, als die Grafenschule vor ihm erschien, schlug die Kirchenglocke zehn. Darek beschleunigte seinen Schritt. Er schlich an den Fenstern des Hausmeisters vorbei, bog von der HauptstraÃe ab und verschwand im Dunkel der abgelegenen Kastanienallee.
Beethovens Sandsteindenkmal ragte hinter dem Schulgebäude hervor, umgeben von einem kleinen Park. Die Inschrift auf dem Sockel tat kund, dass der Meister 1811 auf der Durchreise nach Wien an dieser Stelle ein Päuschen gemacht hatte. Beethovens Kopf, zerstört durch Regen und Vogelkot, erinnerte Darek an einen fauligen Blumenkohl. Die mächtigen Schultern fielen unter der Last der Zeit langsam ein, die rechte Hand, in der er angeblich eine Partitur gehalten hatte, war abgefallen. So weit Dareks Erinnerung reichte, wurde in Piosek gefordert, das Denkmal zu restaurieren. Man bekam jedoch nie die benötigten finanziellen Mittel zusammen. Langsam war es kein Denkmal mehr, es diente nur noch zur Orientierung und als Treffpunkt. Man sagte: »Wir treffen uns beim Ludwig.« Oder: »Komm zum Einhändigen.«
Hanka saà dem Meister zu FüÃen, die
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