Ordnung ist nur das halbe Leben
ich das Gespräch aufschieben konnte, und erklomm die Sprossen der selbst gezimmerten Leiter, blieb aber stehen, sobald ich über die Mauer schauen konnte. Mein Vater reichte mir das Fernglas.
»Da drüben«, sagte er. »In dem alten Birnbaum.«
Ich nahm das Fernglas und versuchte mich zu orientieren. Natürlich kannte ich die Streuobstwiese, die zur Hälfte unseren Nachbarn, den Engels, gehörte, weil ich als Kind dort spielen musste. Aber durch das Fernglas war es gar nicht so einfach, sich zurechtzufinden. Mein Blick schwirrte herum und landete schließlich auf dem Rand der Wiese, wo der Damm lag, hinter dem die Rheinniederungen anfingen. Ich folgte der Reihe von Apfel- und Pflaumenbäumen. Früher hatten Engels ihre Kühe darunter weiden lassen, heute diente sie dem Schäfer Uwe als Weide für die Schafe der Schafsfarm im Nachbarort. Schließlich fand ich den Birnbaum.
»Ich hab ihn«, meldete ich.
»Dann guck dir mal die Asthöhle an«, sagte mein Vater.
»Äh, da ist ja eine kleine Eule!«, rief ich erstaunt.
»Das ist ein Steinkauz. Der hat da einen Brutplatz gebaut. Ist das nicht klasse?«
»Wirklich schön sieht er aus.«
»Der erste Steinkauz, den wir hier haben!«, sagte mein Vater stolz.
Ich fand Gefallen an dem Fernglas und schaute noch ein bisschen herum. Und da entdeckte ich auf der anderen Seite der Wiese noch einen anderen komischen Vogel. Ein schwarzhaariger Mann mit Lederjackett, der telefonierend auf und ab lief. Er erinnerte mich an jemanden. Aber es dauerte noch einen Moment, bis ich ihn tatsächlich erkannte. Es war mein Kollege Ilja. Jetzt steckte er das Handy ein und spazierte weiter über den Damm.
Aha, auch ein karrieregeiler Macho muss sich mal entspannen, dachte ich.
Ich gab meinem Vater das Fernglas zurück und kletterte die Leiter runter.
»Könnte ich Banjo vielleicht doch wieder bei euch lassen?«, fragte ich etwas verlegen.
»Na klar«, sagte mein Vater, der auf dem Weg nach unten mit seinem Gewicht die Sprossen zum Ächzen brachte.
»Kein Problem«, sagte meine Mutter.
Mein Vater legte den Arm um meine Mutter. Sie schauten mich an. »Ohne uns geht es wohl nicht, was?«, sagte sie.
»Wie sollte es auch, Trautchen?«, dröhnte mein Vater und fügte lachend hinzu: »Bei der Hochzeit natürlich auch nicht, oder?«
»Wenn du meinst, es ist richtig, ihn zu heiraten«, warf meine Mutter schnell ein.
»Das ist es, Mama«, betonte ich und verkniff mir eine Grimasse. »Und ich weiß überhaupt nicht, was ihr gegen ihn habt. Alle anderen finden Jens toll.«
»Ja, alte Frauen vielleicht«, brummte meine Mutter.
»Tante Marianne ist zwei Jahre jünger als du«, rief ich.
»Ach ja, stimmt ja.«
»Er ist ja auch gar nicht so übel, nicht wahr, Trautchen?«, warf mein Vater ein.
Ich warf ihm einen dankbaren Blick zu. »Auf jeden Fall würden wir uns – äh – freuen, wenn ihr doch zu unserer Hochzeit kommt.«
»Lass dich umarmen, mein Schatz«, dröhnte mein Vater und drückte mich an sich. »Du wirst es nicht bereuen. Wir haben nämlich auch ein ganz besonderes Geschenk für dich.«
Ich sog erschreckt die Luft ein. Geschenke meiner Eltern erforderten meist ein großes Maß an Toleranz. Und gerade wenn sie sich etwas Besonderes einfallen ließen, wurde es meist brenzlig.
Zu meinem zehnten Geburtstag beispielsweise hatten sie mir den ersten Band der Brockhaus-Enzyklopädie geschenkt und freudestrahlend verkündet, dass ich von jetzt an jeden Geburtstag einen neuen Band bekommen würde. Und wenn ich vierunddreißig wäre, dann könnte ich die Gesamtausgabe mein eigen nennen – ob das nicht prima sei? Nein, hätte ich am liebsten geschrien, denn ich hätte nichts lieber gehabt als die Playmobil-Poststation und eine Dreihundert-Gramm-Tafel Schokolade mit Nüssen.
»Ach, das ist nicht nötig, dass ihr mir etwas Besonderes zur Hochzeit schenkt«, sagte ich deswegen zu meinen Eltern.
»Na gut. Dann eben nicht«, sagte meine Mutter etwas pikiert. »Dann bekommt es eben Lisa, wenn es so weit ist.«
»Lisa? Wer ist das denn?«
»Die neue Freundin deines Bruders.«
»Sie war auch auf Anjas Hochzeit, weißt du nicht mehr?«
Oh doch. Natürlich wusste ich es noch.
15
»Hey, Sören«, begrüßte ich meinen Kollegen.
Er blickte gehetzt von einem Monitor zum anderen.
»Guck mal«, sagte ich deswegen und blieb neben seinem Schreibtisch stehen.
»Was ist?«, herrschte er mich an. Dann klickte er auf seine Maustaste, sein Gesichtsausdruck entspannte sich für einen Moment, und
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