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orwell,_george_-_tage_in_burma

Titel: orwell,_george_-_tage_in_burma Kostenlos Bücher Online Lesen
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Brief kann man zweierlei tun. Man kann darüber schweigen, oder man kann ihn demjenigen zeigen, den er betrifft. Das Naheliegende, Anständige war, den Brief Dr. Veraswami zu geben und es ihm zu überlassen, was er zu unternehmen gedachte.
    Und doch - es war sicherer, sich aus dieser ganzen Sache herauszuhalten. Es ist überaus wichtig (vielleicht das Wichtigste der zehn Gebote des Pukka Sahibs), sich nicht in Streitigkeiten der ›Eingeborenen‹ hineinziehen zu lassen. Mit Indern durfte es keine Loyalität, keine wirkliche Freundschaft geben. Zuneigung, sogar Liebe - ja. Engländer lieben häufig Inder - eingeborene Offiziere, Förster, Jäger, Schreiber, Diener. Sepoys können wie Kinder weinen, wenn ihr Hauptmann in den Ruhestand tritt. Selbst Intimität im richtigen Augenblick ist gestattet. Aber ein Bündnis, Parteigängerschaft, nie! Selbst sich in Recht oder Unrecht in einem ›Eingeborenen‹ - Streit auszukennen bedeutet einen Prestigeverlust.
    Wenn er den Brief veröffentlichte, würde es Krach und eine offizielle Untersuchung absetzen, und letzten Endes hätte er sich damit auf Gedeih und Verderb mit dem Doktor gegen U Po Kyin verbunden. Auf U Po Kyin kam es nicht an, aber auf die Europäer; wenn er, Flory, zu auffällig die Partei des Doktors ergriff, würde der Teufel los sein. Viel besser, so zu tun, als hätte der Brief ihn nie erreic ht. Der Doktor war ein guter Kerl, aber gegen die ganze Wut der vereinigten Pukka Sahibs für ihn eintreten - o nein, das nicht! Was nützt es dem Menschen, wenn er seine Seele rettet und dabei die ganze Welt verliert? Flory begann den Brief zu zerreißen. Die Gefahr, ihn bekanntzumachen, war sehr gering, sehr nebulös. Aber in Indien muß man sich vor nebulösen Gefahren hüten. Prestige, der Lebensatem, ist selbst sehr nebulös. Er riß den Brief sorgfältig in kleine Stücke und warf sie über den Zaun.
    In diesem Augenblick hörte man einen Entsetzensschrei, ganz anders als die Stimmen von Ko S’las Frauen. Der Mali ließ sein Mamootie sinken und starrte mit offenem Munde in die Richtung, aus der der Schrei kam, und Ko S’la, der ihn auch gehört hatte, kam barhäuptig aus den Dienstbotenräumen gerannt, während Flo aufsprang und scharf kläffte. Der Schrei wiederholte sich. Er kam aus dem Dschungel hinter dem Haus, und es war eine englische Stimme, der Entsetzensschrei einer
    Es gab keinen Hinterausgang aus dem Anwesen. Flory kletterte über das Tor und landete mit einem blutenden Knie, da er sich einen Splitter eingerissen hatte. Er rannte um den Zaun des Grundstücks und in den Dschungel, Flo hinterdrein. Gleich hinter dem Haus, hinter dem äußersten Saum von Gebüsch, befand sich eine kleine Mulde mit einer Pfütze stehenden Wassers darin, die von Büffeln aus Nyaunglebin aufgesucht wurde. Flory schlug sich durch die Büsche. In der Mulde kauerte eine junge Engländerin mit kalkweißem Gesicht an einem Busch, während ein riesiger Büffel sie mit seinen halbmondförmigen Hörnern bedrohte. Ein behaartes Kalb, zweifellos die Ursache des Angriffs, stand dahinter. Ein zweiter Büffel, bis zum Hals in dem schlammigen Tümpel, sah mit mildem prähistorischem Gesicht zu und schien sich zu fragen, was da um ihn herum vorging.
    Das Mädchen wandte ihr verängstigtes Gesicht Flory zu, als er aus dem Gebüsch trat. »Oh, machen Sie schnell!« rief sie in dem ärgerlichen, dringenden Ton von jemand, der sehr erschrocken ist. »Bitte! Helfen Sie mir! Helfe n Sie mir!«
    Flory war zu erstaunt, um Fragen zu stellen. Er eilte zu ihr, und da er keinen Stock hatte, gab er dem Büffel eine Ohrfeige auf die Nase. Mit einer schüchternen, tolpatschigen Bewegung wandte sich das große Tier ab und trottete schwerfällig davon, von dem Kalb gefolgt. Der andere Büffel befreite sich aus dem Schlamm und latschte ebenfalls davon. Das Mädchen stürzte sich, völlig überwältigt von Angst, auf Flory zu, ihm fast in die Arme.
    »Oh, danke, danke! Oh, diese schrecklichen Biester! Was sind das? Ich dachte, sie wollen mich umbringen. Was für entsetzliche Geschöpfe! Wie heißen sie?«
    »Das sind nur Wasserbüffel. Sie kommen aus dem Dorf da hinten.«
    »Büffel?«
    »Keine wilden Büffel - wir nennen sie Bisons. Diese hier sind eine Art Vieh, das die Bur manen halten. Die haben Ihnen einen schönen Schrecken eingejagt. Tut mir leid.«
    Sie klammerte sich immer noch fest an seinen Arm, und er fühlte sie zittern. Er blickte zu ihr nieder, aber er konnte ihr Gesicht nicht sehen, nur ihren

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