Ostfriesenblut
Eine Weile hatte es so ausgesehen, als ob jemand die Speerspitze der Behindertenarbeit in Ostfriesland umbringen wollte. Es hatte vier Tote gegeben. Nachdem es ihr gelungen war, den Fall aufzuklären, atmete ganz Ostfriesland auf.
Sie war noch sehr aufgeregt und nervös gewesen, doch Holger Bloem hatte sein Interview bekommen. Er wollte ein Porträt machen, und sie wusste, als sie ihn zum ersten Mal sah, er würde sie nicht hereinlegen. Er war eine ehrliche Haut. Er hatte kein Interesse daran, sie vorzuführen oder ihr zu schaden. Er wollte den Leuten in Ostfriesland etwas von ihrer Arbeit erzählen, davon, dass eine, die unter ihnen lebte, sich mit so schrecklichen Dingen beschäftigte und doch eine ganz normale
Frau geblieben war, die im gleichen Supermarkt einkaufen ging wie alle anderen auch.
In ihrem Wohnzimmer hatte er sich alles erzählen lassen, dabei ein paar Kekse gegessen und schließlich hatte es dieses Porträt gegeben.
Hagemann hatte den Artikel gelesen, das war klar. Das Porträt war am 3 .Mai erschienen. Damals waren Erwin Rottländer, Edeltraut Stahlmüller und Karl Fink schon tot. Er hatte noch nicht begonnen, in Ostfriesland Blut zu vergießen.
Ann Kathrin atmete tief. Das laute Brummen ließ nach. Sie krabbelte auf allen vieren zur Mineralwasserflasche und nahm einen großen Schluck. Dann zog sie sich langsam am Schreibtisch hoch und setzte sich in den Bürosessel zurück.
Sie sah die Welt noch ein bisschen verschwommen. Die Buchstaben auf dem Bildschirm tanzten vor ihren Augen, als hätten sie ein Eigenleben. Doch je tiefer sie atmete, umso mehr Ordnung kam in die Zeilen.
Sie walkte sich das Gesicht durch und las weiter.
Ich habe Sie auserkoren, weil ich dachte, Sie würden verstehen, Frau Klaasen.
Während Ann Kathrin Klaasen weiterlas und gegen das Schwindelgefühl ankämpfte, jagten die Gedanken durch ihren Kopf.
Er will von mir verstanden werden. Er hat mir die Leiche vor die Tür gelegt, weil er sicher sein wollte, dass ich den Fall übernehme und nicht irgendjemand anders. Wahrscheinlich beobachtet er mich schon seit Mai. Er hat also meine ganze Krise mitgekriegt.
Wenn Sie mich nicht kriegen, werden Sie den Mörder Ihres Vaters auch nie fangen.
Er wusste also auch das.
Ann Kathrin spürte, dass er sie beobachtete. Wahrscheinlich weidete er sich daran, dass seine E-Mail ihr so einen Schock versetzt hatte.
Sie nahm noch einen großen Schluck St. Ansgari, dann drehte sie sich zu der Webcam in ihrem Buchregal um.
»Ich weiß, dass Sie mich sehen. Es geht mir nicht besonders gut. Als ich Ihre Worte gelesen habe, ist mir schlecht geworden. Sie fühlen sich unverstanden. Aber es ist schwer, einen Menschen zu verstehen, wenn man nicht wirklich mit ihm reden kann. Ich bekomme nur die Ergebnisse Ihres Hasses. Sie legen eine Leiche nach der anderen in meinen Weg. Wenn ich Sie wirklich verstehen soll, muss ich mit Ihnen reden. Ich treffe Sie, wo immer Sie wollen. Aber vorher lassen Sie Susanne Möninghoff frei.«
Ann Kathrin hörte ihre eigenen Worte und wusste, dass sie damit nicht nur viel riskierte, sondern auch noch Heinrich Jansen aufgegeben hatte. Vielleicht lebte der aber noch. Sie gestand sich selber ein, dass dieser Mann sie nicht sonderlich interessierte. Sie bot sich Thomas Hagemann nicht an, um irgendein Menschenleben zu retten. Zunächst einmal wollte sie einfach ihr Privatleben zurück. Sie wollte ihn überführen, damit sie endlich wieder ein normales Leben führen konnte, sofern es so etwas für sie überhaupt noch gab.
»Ich weiß, dass man Ihnen schreckliches Leid zugefügt hat«, sagte sie. »Ich habe die Bücher über Schwarze Pädagogik gefunden. So darf man mit Menschen nicht umgehen. So dressiert man Tiere. Und selbst das ist nicht in Ordnung. Aber wenn Sie weitermorden, werden Sie die Wunden Ihrer Seele nicht heilen.«
Plötzlich war es für sie, als ob sie ihn in ihrer Nähe fühlen konnte. O ja. Sie begann ihn immer mehr zu verstehen.
»Sie wollen, dass das Unrecht, das man Ihnen angetan hat, aufgeklärt wird. Das kann ich gut verstehen. Ich möchte auch, dass das Unrecht, das meinem Vater widerfahren ist, aufgeklärt
wird. Auch ich kann nicht ertragen, dass der Täter frei herumläuft. Aber ich habe kein Recht, ihn umzubringen. Ich will herausfinden, wer es war, um ihn dann verhaften und den Behörden übergeben zu können. Wäre es nicht besser, man würde Heinrich Jansen und seinen schlimmen Erziehungsmethoden den Prozess machen, als dass Sie ihn einfach
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