Ostfriesenblut
wollte Rad fahren und jeden Tag das Meer sehen. Am liebsten bei Sonnenaufgang. So konnte das Leben vergehen. Der Rest … was bedeutet schon der Rest des Lebens? Wenn man wusste, dass jeden Morgen wieder die Sonne aufging und das Rad einen zum Wattenmeer trug?
Ann Kathrin Klaasen bedankte sich bei ihm. Er nickte nur kurz und radelte weiter.
Ann Kathrin lief die Deichwiese hoch und winkte Hero. Er rannte sofort zu ihr.
»Du hattest möglicherweise recht«, gab sie unumwunden zu. »Es kann sein, dass sie entführt worden ist. Vielleicht ist sie zurückgelaufen, und ein Mann, den wir schon lange jagen, hat sie am Parkplatz in sein Auto gezerrt.«
»Woher weißt du das jetzt?«
»Weil der Mann hier gesehen wurde. Und sie auch.«
»Wer ist dieser Mann?«
»Ich glaube, das darf ich dir noch nicht sagen.«
»Du darfst mir das nicht sagen?«
»Ich bin Polizistin.«
»Du bist auch meine Frau.«
»Na, das fällt dir aber in einer seltsamen Situation ein. Wir folgen gerade gemeinsam der Spur deiner Geliebten. Schon vergessen? Wird sie eigentlich die neue Frau Klaasen, wenn wir geschieden sind?«
»Spielt das jetzt eine Rolle, Ann?«
»Für mich schon. Bis jetzt gab es nur eine Frau Klaasen in Norden. Mich. Ich fände es ganz schön, wenn das auch so bleiben würde. Sonst nehme ich meinen Mädchennamen wieder an.«
Stumm gingen sie zum Parkplatz zurück. Sie sahen aus wie zwei Menschen, die nichts miteinander zu tun hatten und nur zufällig nebeneinander hergingen. Jeder ganz in seine Gedanken versunken.
Ann Kathrin warf Hero einen Blick zu.
Er setzte zu einer Erklärung an: »Das ist nicht irgend so eine schmutzige, kleine Affäre. Ich … Wir … lieben uns wirklich. Bitte hilf mir. Ich will sie nicht verlieren.«
Einerseits hätte sie ihm eine reinhauen können, andererseits sah sie seine feuchten Augen, und das rührte sie an.
Kurz vor der großen Dienstbesprechung hielt Charlie Thiekötter Ann Kathrin auf. Er bat sie mit einer knappen Kopfbewegung in seinen Schlachtraum für Computer. Er schloss die Tür und blieb mit der Klinke in der Hand stehen wie jemand, der etwas zu verbergen hat.
Er flüsterte: »Ann Kathrin, ich hab echte Bauchschmerzen dabei. Ich meine, was wir hier machen, ist ein richtig fettes Dienstvergehen. Disziplinarrechtlich gesehen … «
Er trat von einem Fuß auf den anderen. Er tat Ann Kathrin leid. Sie sah seine Not und wollte nicht dafür verantwortlich sein.
»Warum fragst du mich dann erst, wenn du es doch nicht mit deinem Gewissen vereinbaren kannst?«
»Ich … Ann Kathrin, ich dachte, die Sache sei beendet, aber jetzt hat er sich diese neue Frau geholt, diese … «
»Susanne Möninghoff.«
»Ja. Genau.«
»Tu, was du nicht lassen kannst. Ich kann es dir nicht verübeln, Charlie. Es ist dumm und peinlich für mich, aber es ließe sich ohnehin nicht ewig geheim halten.«
Er nickte erleichtert.
Sie klopfte ihm gegen den Oberarm. »Kannst du mir denn einen Gefallen tun?«
»Welchen?«
»Bitte halte das Ganze heute bei der Dienstbesprechung noch zurück. Du kannst es ihnen morgen sagen. Übermorgen. Wann du willst. Aber nicht jetzt.«
Er fragte nicht, worin der Vorteil durch diesen Zeitgewinn für sie lag. Er war sofort einverstanden. »Das ist überhaupt kein Problem, Ann Kathrin. Es sind Millionen von Daten auf den Festplatten. Fotos, Filme – jede Menge Hollywoodstreifen. Kriegsfilme und – ach! Ich muss die Aufnahmen von euch ja nicht sofort gefunden haben.«
»Danke«, sagte sie. »Wirklich, danke Charlie. Damit hilfst du mir.«
Charlie fragte sich, was sie vorhatte, wagte aber nicht, sie zu fragen. Er hatte das Gefühl, dann eine Abfuhr von ihr zu bekommen. Vielleicht war es etwas Privates. Er war schon froh, dass sie nicht von ihm verlangt hatte, die Aufnahmen von ihr und Weller zu löschen.
Er hatte ihr nicht alles gesagt und gezeigt. Warum auch? Er
wollte sie nicht zu sehr verletzen. Es gab allein eine ganze DVD mit ihr auf der Toilette. Offensichtlich schaltete sich die Webcam jedes Mal automatisch ein, wenn jemand ins Bad ging und das Licht anmachte.
Ann Kathrin wollte pünktlich zur Dienstbesprechung, doch Charlie hielt sie noch einmal kurz zurück: »Ann Kathrin, er hat so eine Art Big-Brother-Haus aus deiner Wohnung gemacht. Er kann dich praktisch überall beobachten.«
Sie sah auf ihre Füße.
»Du willst doch nicht wieder in den Distelkamp zurück, oder?«
»Doch. Ich werde dafür sorgen, dass er Spaß hat an seinen
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