Ostfriesenblut
Endfünfziger fest. Er war fast 1 , 90 Meter groß, wog aber kaum mehr als 70 Kilo. Seine Frau eiferte ihm mit roten Wangen nach, war aber im Gegensatz zu ihm ein kleines, rundes lebensfrohes Fässchen.
»Interessant. Ich dachte, Sie warten hier auf den Bus. Ich kann Sie natürlich auch in die Polizeiinspektion einladen«, zischte Ann Kathrin. Sie merkte an ihrer scharfen Reaktion, dass sie noch nicht ausgeschlafen war und dass dies heute wirklich nicht ihr Tag werden würde.
Die beiden sahen sich das Bild an, dabei liefen sie auf der Stelle weiter, um ja nicht aus dem Rhythmus zu kommen.
»Nein. Nie gesehen.«
»Ich auch nicht.«
»Sind Sie gestern Morgen auch hier langgelaufen?«
»Nein, wir laufen jeden Tag woanders. Wir lieben die Abwechslung.«
»Danke schön. Entschuldigen Sie, dass ich Sie gestört habe.« Jetzt wollte der hagere Riese plötzlich neugierig geworden, noch wissen: »Was ist denn mit der Frau?«
»Wenn Sie nichts gesehen haben, geht Sie das auch nichts an.«
»Ist ihr was passiert?«
»Ich wünsche Ihnen noch einen guten Tag.«
Die beiden entfernten sich im Laufschritt. Ann Kathrin bog sich einmal durch und sah landeinwärts zu den Windrädern.
Sie erinnerte sich an das Kind, das den Vater am Strand gefragt hatte, ob die Ostfriesen damit den Wind machen, um bei Ebbe das Meer zurückzudrängen. Dann sah Ann Kathrin eine Gruppe von Nordic-Walking-Fans. Sie kamen vom Drachenstrand hoch, überquerten den Deich, und Ann Kathrin zeigte ihnen das Foto. Hier war keiner patzig oder blöd zu ihr. Zwei Hausfrauen aus Franken erinnerten sich sogar an Susanne Möninghoff.
»Die ist doch morgens hier immer rumgelaufen.«
»Ja, ich hab die mal gesehen, aber heute noch nicht.«
»Ich frage auch nicht nach heute, sondern nach gestern«, sagte Ann Kathrin.
»Nein, gestern waren wir nicht hier.«
Auf der Deichstraße kam ein Radfahrer auf einem typischen Hollandrad an. Er stemmte sich gegen den Wind und stand in den Pedalen. Er hatte dichtes, wuscheliges Haar, das der Wind zerzauste.
Ann Kathrin lief quer über die Wiese zur Straße runter und hatte Glück. O ja, er kannte Susanne Möninghoff. Er war ihr oft begegnet, auch gestern.
»Wo?«
»Etwa dort.« Er zeigte auf eine Stelle, ungefähr auf der Höhe von Diekster Köken.
»Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen?«
»Ja. Sie sah klasse aus.«
»Das meine ich nicht. Wurde sie verfolgt? War da noch irgendjemand?«
»Wie – verfolgt? Nein, die ist doch nur gerannt, weil … « Er lachte. »Das ist ein Sport.«
»Sie wird seit gestern Morgen vermisst. Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen?«, fragte Ann Kathrin noch einmal mit aller Ernsthaftigkeit.
Der Mann überlegte und kratzte sich die Kopfhaut. Dann stützte er sich auf den Lenker seines Hollandrads. »Ja, warten Sie mal. Da war etwas. Hier unten, auf dieser Seite vom Deich, da war ein Mann. Er war nicht auf gleicher Höhe mit ihr, sondern hielt ziemlichen Abstand. Ich schätze, so fünfzig Meter lief er hinter ihr her. Aber er begaffte sie. Ich wette, er sah ihr die ganze Zeit auf den Hintern. Ich hätte ihn fast umgefahren.«
»Wissen Sie, wie er aussah?«
»Ja, so … also, mittelgroß und dunkle Haare, nicht richtig schwarz, aber auch nicht braun. Eine bisschen platte Nase, als hätte er mal eins draufgekriegt. Ein Gesicht wie ein Profiboxer, aber nicht mehr voll fit, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Ann Kathrin Klaasen spürte ein Kribbeln auf der Haut. Also doch, dachte sie.
»Erzählen Sie weiter. Was haben Sie noch gesehen? Jedes kleine Detail ist wichtig. Trug der Mann eine Brille?«
»Nein – ich glaube nicht.«
»Ist er weiter hinter der Frau hergelaufen?«
»Nein, nein. Das weiß ich ganz genau. Ich bin zum Hafen, habe da noch eine Runde gemacht und dann, als ich wieder zurückfuhr, kam er mir entgegengelaufen. Sie joggte aber weiter geradeaus. Ich hab sie auch noch einmal gesehen. Hübsche Frauen bleiben mir immer im Gedächtnis.«
Ann Kathrin versuchte sich nicht anmerken zu lassen, dass sie langsam sauer wurde und bei der nächsten Erwähnung von Susanne Möninghoffs Aussehen für nichts mehr garantieren konnte.
Sie notierte sich den Namen des Zeugen. Harald Kühnert. Er war Berufsschullehrer in Norden und leidenschaftlicher Radfahrer. Er hatte in Oberhausen fast zehn Jahre lang dafür gekämpft, nach Norden versetzt zu werden. Diese älteste Stadt Ostfrieslands war seine Traumstadt. Er gab es nicht gerne zu, aber hier hätte er auch fürs halbe Geld gearbeitet. Er
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