Ostfriesensünde
unter Druck, er möge ihm helfen, Ann Kathrin zur Vernunft zu bringen, »bevor die Kollegen sie fassen«.
Ubbo Heide beschwor Weller: »Wenn du sie liebst, Frank, dann hilf ihr und uns, indem wir das hier beenden. Es kann nicht gut ausgehen. Wie viele Leute sollen denn noch sterben?«
»Sie glaubt, dass einer von uns mit drinhängt«, hatte Weller Ubbo Heide entgegengehalten. Seine Worte klangen in Wellers Ohren nach: »Ich befehle dir, uns zu helfen, Frank. Entscheide dich, wo du stehst, und dann gib mir deine Marke oder reih dich wieder ein.«
An den Ausdruck »ich befehle dir« konnte Weller sich aus früheren Zeiten nicht erinnern. Sie hatten schon oft unter mörderischem
Druck gestanden, aber nie zuvor war Ubbo so ausgeflippt. In seinem Beisein hatte Ubbo versucht, Ann Kathrin anzurufen, um sie zur Aufgabe zu bewegen. Ihr Handy klingelte auch, aber nicht sie ging ran, sondern eine Kollegin aus Rheinland-Pfalz, die sich mit »Ann Kathrin Klaasen« meldete. Eine Finte, die Ubbo Heide so aufregte, dass er den Vorgesetzten der Kollegin sprechen wollte und eine Dienstaufsichtsbeschwerde schrieb.
Das alles drehte sich in Wellers Kopf zu einem Strudel, in dem er zu versinken drohte. Er hatte Mühe, sich auf Henn zu konzentrieren.
Henns Haus machte einen unbewohnten Eindruck. Zweifellos musste irgendwo zumindest ein Schlafraum sein, eine benutzbare Toilette oder eine Küche, aber schon der Flur stellte ein nur schwer zugängliches Hindernis dar. Umzugskisten stapelten sich links und rechts. Eine Tapete war nicht sichtbar, wo die Wände nicht zugestellt waren, hingen Plakate:
Wenn Sie schon zwei Kinder haben und drei zu viel sind, warum erschießen Sie dann nicht eins? Schwangerschaftsabbruch ist Mord!
Zunächst glaubte Weller, es würde nach einer defekten Toilette riechen, aber als Henn ihn bat, in die Küche zu kommen, stellte er fest, dass es die Kohlsuppe war, die diesen Duft verbreitete.
Henn beschimpfte die Polizei, den Staat und die Regierung als Helfershelfer des Holocaust an Millionen Babys. Huberkran bremste ihn. Aber statt sachdienlicher Hinweise mussten sie sich einen Vortrag anhören, und als Weller Henn anschrie, er solle sich mäßigen, es ginge um das Leben von Dr.Gaiser, da lächelte Henn: »Ein Schwein weniger. Klasse, sage ich da nur. Es gibt halt doch einen Gott. Wissen Sie, Herr Kommissar, die ersten Aktivisten haben sich längst von unserem legalistischen Weg getrennt. Die merken doch, dass das alles nichts bringt. Briefe
schreiben. Protestieren. Die ganze organisierte Empörung. Das nächtliche Plakatekleben. Die sind längst in den Untergrund gegangen, lassen nicht länger mit sich reden, wollen nicht weichgespült werden, kein Verständnis mehr haben, schlagen zu. Hart. Präzise. Wo es dem Feind besonders weh tut. Wer den Gaiser für eine Zeit aus dem Verkehr zieht, rettet pro Tag vier Leben. An Wochenenden, wenn der Tötungstourismus beginnt, noch mehr. Wer immer es war, Herr Kommissar, man sollte ihm eine Lebensrettungsmedaille überreichen. Der Mensch, den Sie verfolgen, der verdient Respekt. Hochachtung. Er ist ein Held. Eine Art Wilhelm Tell.«
»Jetzt reicht es aber!«, grollte Huberkran. Er war kurz davor, diesem Henn eins in die Fresse zu hauen.
»Sind Sie dieser Held, den Sie hier in so strahlenden Farben schildern?«
Henn rührte die stinkige Suppe um. »Nein, bin ich nicht, weil ich ein feiger Kompromissler bin. Weil ich befürchte, eine lange Haftstrafe nicht durchzustehen.«
Huberkran und Weller sahen sich an und stimmten mit Blicken ihr weiteres Vorgehen ab. Huberkran legte sorgfältig DIN -A 4 große Fotos auf den Tisch. Henn drehte ihm den Rücken zu und schmeckte seine Kohlsuppe ab.
Der Kohl wurde bestimmt mit zu viel Gülle gedüngt, dachte Weller und fragte scharf: »Okay, Sie haben es nicht gemacht, weil Sie zu feige sind. Aber Sie kennen den Täter, stimmt’s?«
Henn antwortete nicht. Huberkran riss ihn vom Topf weg und zwang ihn, sich die Fotos anzusehen. Henn wehrte sich nicht.
»Da, schauen Sie, was Ihr Held angerichtet hat. Diese junge Frau hier war vierundzwanzig Jahre alt, als sie von ihm eingemauert wurde. Sie ist jämmerlich verhungert. Ihre Mutter hat sich das Leben genommen, sie wurde mit dem Verlust nicht fertig. Sie glaubte, ihre Tochter hätte die Familie wegen eines
Streits verlassen. Und diese hier –«, Huberkran tippte auf ein Bild, »war sechsundzwanzig, als … «
Henn machte sich abrupt los und stellte sich aufrecht hin. »Das
Weitere Kostenlose Bücher