Pandoras Tochter
Wo ist Grady?«
»Er ist unterwegs, um alles vorzubereiten, und hat mich gebeten, Sie sicher nach Paris zu bringen.« Er verneigte sich leicht. »Ich werde Sie gesund und munter abliefern. Was meinen Sie, wie groß meine Chancen sind?«
»Woher soll ich das wissen? Wahrscheinlich nicht sehr hoch. Fifty-fifty vielleicht. In letzter Zeit würde mich wohl kaum jemand als ›munter‹ beschreiben.«
»Dann muss ich mich wohl darauf konzentrieren, Sie am Leben zu erhalten.« Er nahm ihren Koffer. »Gehen wir. Wie ich mir vorstellen kann, sind Sie nicht sehr begeistert, dass ich an Gradys Stelle getreten bin. Besser, wir machen uns schnell auf den Weg, damit Sie keine Gelegenheit haben, das zum Ausdruck zu bringen. Ich bin ein empfindsames Wesen.«
Er hatte recht. Sie war enttäuscht gewesen, als sie Harley auf dem Stuhl vorgefunden hatte, auf dem kurz zuvor noch Grady gesessen hatte. Eigentlich hätte sie erleichtert sein müssen. Harley hatte sie im Krankenhaus getröstet, und seine ungewöhnliche, leicht verrückte Art war ihr sehr sympathisch. Wenn sich Grady in ihrer Nähe aufhielt, war sie immer auf der Hut. Ständig bewegte sie sich an der Grenze zwischen Argwohn und zaghaftem Vertrauen. Gott, die Zaghaftigkeit sollte sie sich bewahren. Er hatte zugegeben, dass er ihr nicht die ganze Wahrheit gesagt hatte. Und die Enttäuschung darüber war noch spürbar. Vielleicht lag das daran, dass jede Minute mit Grady eine Herausforderung war – die Ansprüche, die er an sie stellte, und seine Präsenz zwangen sie dazu, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen.
Harley seufzte. »Sie eilen nicht herbei, um mir den Kopf zu tätscheln und mich mit Mitgefühl zu überschütten. Normalerweise ernte ich mit dem Spruch über meine zart besaitete Seele eine enthusiastischere Reaktion.«
»Quatsch.« Sie lächelte. »Sie brauchen kein Kopftätscheln. Sie wüssten gar nicht, was Sie mit so einem Unsinn anfangen sollten.«
»Das könnte ich lernen. Sie nehmen mir das nicht ab? Dann muss ich mir wohl oder übel eine andere Taktik einfallen lassen. Lassen Sie mich darüber nachdenken.« Er nahm ihren Arm. »Auf dem Weg nach Stockholm.«
»Stockholm? Ich dachte, wir fliegen nach Paris?«
»Das tun wir – über Stockholm. Grady braucht noch ein bisschen Zeit, um den Weg zu ebnen.«
»Und Molino soll, wenn er uns folgt, nicht wissen, welches Ziel wir in Wirklichkeit anpeilen?«
»Oh, er folgt uns. Aber nicht lange. Sobald wir in Stockholm ankommen, lösen wir uns in Luft auf. Kommen Sie, wir verpassen noch unsere Maschine, wenn wir nicht auf die Tube drücken.« Er lächelte, als er ihren Ellbogen umfasste. »Ich verspreche, dass Sie sich auf dem Flug nicht langweilen werden. Ich hatte im Klinikwartezimmer keine Möglichkeit zu zeigen, wie witzig und geistreich ich sein kann. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, freundlich zu sein und Sie zu trösten.«
»Und das ist Ihnen gelungen.« Auch jetzt machte er einen guten Job. Ihr wurde bewusst, dass sie nicht mehr annähernd so nervös und ängstlich war, seit er hier war. Harley lenkte sie nicht nur ab, sondern gab ihr mit der sanften Berührung, mit der er sie zur Haustür dirigierte, denselben Trost wie im Krankenhaus. »Und Sie sollten bei dem bleiben, was Sie gut können. Im Augenblick wäre es für mich zu anstrengend, Ihren Witz zu bewundern.«
»Was für ein Glück. Den Stress bin ich los.«
Und auch sie spürte, dass sie nicht mehr so unter Druck stand. Sie hatte einen langen Flug vor sich und Gelegenheit, über all das nachzudenken, was ihr Leben auf den Kopf gestellt hatte.
Und viele Stunden, um sich auf ihre nächste Begegnung mit Grady vorzubereiten.
War das Gradys Absicht gewesen, als er Harley beauftragt hatte, sie nach Paris zu bringen? Vielleicht.
»Lassen Sie uns gehen.« Sie trat vor ihm aus dem Haus. »Je früher wir anfangen, umso schneller haben wir’s hinter uns.«
»Sie sitzt in einer Maschine nach Stockholm«, sagte Sienna und drehte sich zu Molino um. »Darnell sagt, dass das Flugzeug vor vierzig Minuten gestartet ist.«
»War Grady bei ihr?«
»Nein, Grady hat ihr Haus knappe zwei Stunden vor ihr verlassen. Darnell dachte, dass es dir lieber wäre, wenn er bleibt und die Blair im Auge behält. Sie ist mit Jed Harley an Bord gegangen – das ist der Typ, der ihr im Wartezimmer der Klinik beigestanden hat.«
Molino fluchte leise. »Das ist genauso, als wäre sie in Gradys Begleitung. Harley arbeitet seit vier Jahren für ihn. Wen haben wir
Weitere Kostenlose Bücher