Panther
Nick einen Seitenblick zu, der ihr mit einer Kopfbewegung bedeutete, sich zu setzen. Er war ihr dankbar für ihren Versuch, ihn vor einem unsäglich peinlichen Moment zu bewahren, aber er wollte nicht, dass sie seinetwegen Ärger bekam.
»Ich warte, mein Fräulein.« Wendell Waxmo bürstete mit den Fingern über den Aufschlag seines abgewetzten alten Smokings. »Wärst du so gut uns mitzuteilen, weshalb dein junger Freund hier keine Lust hat, ein Liedchen zu schmettern?«
»Weil sein Vater im Irak bei einem Granatenangriff fast ums Leben gekommen ist, deshalb«, sagte sie leise. »Lassen Sie ihn also bitte in Ruhe, ja? Lassen Sie ihn einfach in Ruhe.«
Wendell Waxmo machte ein Gesicht, als wäre ihm eine Bowlingkugel auf die Zehen gefallen. Sein Mund formte ein O und blieb offen stehen. Das lange, leise Zischen, das daraus entwich, erinnerte an einen Reifen, der die Luft verlor.
Nick wusste nicht, was er tun sollte. Die meisten Mitschüler schauten ihn mit einer Mischung aus Kummer und Mitleid an. Sogar Smoke hatte sein Buch zugeschlagen und sah Nick vom anderen Ende der Klasse aus nachdenklich an.
Als Marta sich setzte, glitzerten Tränen in ihren Augen. Sie kritzelte etwas auf ein Zettelchen, das sie Nick zuwarf: Ich wünsche mir Mrs. Stark zurück!
Langsam kehrte die Farbe in Wendell Waxmos Gesicht zurück, und er räusperte sich viel zu laut und viel zu feucht. Wieder einmal hatte ihm jemand im Unterricht die Schau gestohlen, und dieses Mal erlaubten die Umstände nicht einmal eine schlagfertige Antwort.
»Nun, Nick, wir alle beten inständig für deinen Vater und deine Familie. Kriege sind immer tragisch«, sagte der Vertretungslehrer, »aber das Leben geht weiter. Weshalb ich die Klasse bitten möchte, ihre Aufmerksamkeit wieder der Seite 329 und dem Thema Punktualismus zuzuwenden.«
Nick hob die linke Hand.
»Ja, Nick?«
»Mein Vater wird wieder gesund«, erklärte Nick mit kräftiger Stimme. »Die Ärzte sagen, er wird sich gut erholen.«
Wendell Waxmo hoffte, die positive Einstellung des Jungen würde die Klasse aufmuntern. »Was für gute Nachrichten!«, sagte er. »Das ist doch einen Applaus wert, würde ich sagen!«
Die Schüler starrten den Mann an, als stünde er plötzlich in der Unterhose da. Wendell Waxmo sah zur Wanduhr hinüber: noch neun lange Minuten bis zum Läuten.
»Ah, da war doch noch was«, sagte er betont munter und holte aus seiner schäbigen Aktentasche den Aufsatz hervor, den Smoke geschrieben hatte. Mit einem dicken roten Filzstift war ein grausames, übergroßes D+ auf die Titelseite geschmiert, schmerzhaft sichtbar für jeden, selbst für die, die in der letzten Reihe saßen. Wendell Waxmo wedelte mit dem Papier vor Smokes Gesicht herum und sagte: »Pickel – also wirklich, Duane.« Der Aufsatz war übersät mit leuchtend roten Strichen, Kringeln und Anmerkungen.
»Meine Idee war’s nicht«, sagte Smoke. »Mrs. Stark wollte, dass ich darüber schreibe.«
»Nun, aber sie ist nicht hier, stimmt’s?«
»Aber was ist an dem Aufsatz so schlecht?«
»Mit einem Wort: der wissenschaftliche Ansatz, beziehungsweise das Fehlen desselben. Ich lasse dieses katastrophale Werk hier im Schreibtisch liegen, damit sich Mrs. Stark nach ihrer Rückkehr selbst ein Bild davon machen kann.« Wendell Waxmo ging wieder nach vorn und legte das Papier in die oberste Schublade des Lehrerpults.
Die übrigen Schüler sagten nichts, doch die Stimmung war eindeutig feindselig. Nick sah, dass Marta wieder etwas auf eins ihrer Zettelchen kritzelte. Die Adern an ihrem Hals waren sichtbar angeschwollen, ein Zeichen, dass sie wütend war. Schließlich zerknüllte sie das Papier und formte nur mit den Lippen die Worte: Ich hasse ihn!
Auch Nick hatte Mitleid mit Smoke, der von der schlechten Note wirklich am Boden zerstört schien. Der verrückte Dr. Waxmo hätte wenigstens bis nach der Stunde warten können, anstatt den Aufsatz vor der ganzen Klasse zurückzugeben und Smoke vor den anderen so bloßzustellen.
Smoke hob die Hand.
Wendell Waxmo rief Graham auf, der gerade gar nicht damit rechnete. »Graham, würdest du der Klasse bitte erklären, wie der Punktualismus mit der Artbildung, auch Speziation genannt, zusammenhängt?«
Graham stand auf und gab wie immer eine völlig verkehrte Antwort.
Smoke reckte den Arm. Wendell Waxmo sah in die andere Richtung und rief Mickey Maris auf.
Nick hielt es nicht mehr aus. Er räusperte sich und sagte laut: »Duane hat eine Frage, Dr. Waxmo.«
»Wie
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