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Paravion

Paravion

Titel: Paravion Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: bouazza
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angestrengt, Mutter war beim Hühnerfüttern hinterm Haus, wobei sie sich mit der Nachbarin unterhielt, man konnte ein Gegacker kaum vom anderen unterscheiden. Er wußte nicht, was er tun sollte, wenn sie ihn jetzt entdeckten, kassierte er eine Tracht Prügel, weil er die Schule schwänzte, käme er später zurück, erwartete ihn wieder eine Abreibung, weil seine Mutter ihm nicht glauben würde, daß er unbesudelt den Tag überstanden habe. Denn wie gründlich er auch wusch, die Mutter fand stets ein Zeichen an seiner Hose; waren es nicht gelbe Streifen, dann trockenharte Falten im Hosenstoff. Also beschloß er, später wiederzukommen, und schlenderte über die dunstigen Felder, wo ihm ums Herz ganz wehmütig wurde vom Läuten der Ziegenglöckchen.
    Als die Jungen mit dem Lecken fertig waren, bereuten sie es, ihr Geld für Schmelzwasser ausgegeben zu haben. Die Zahnstocher wippten zwischen ihren Lippen. Der Geschichtenerzähler gestikulierte heftig und bannte darauf mit ausgestreckter Hand – »Hört zu!« – die atemlose Aufmerksamkeit. Beim Kiosk, er hieß Sidi Garrot, suchten sie nach Zigarettenstummeln, fanden aber nur eine Münze und wurden schließlich vom griesgrämigen Verkäufer verjagt.
    Beim Kino »Coulisses« starrten sie begierig auf die zerfetzten Filmplakate und seufzten traurig. Ein Mann, der gerade eine Eintrittskarte kaufte, fragte sie, ob sie hinein wollten. Sie zeigten ihm zur Antwort das Futter ihrer Hosentaschen.
    Er nickte und sagte: »Wenn ihr hier auf mich wartet, erzähl’
    ich euch nachher den Inhalt.« Er lachte und tauchte in die Unterwelt ein. Ein schwarzer Wasserverkäufer in langem rotem Hemd, dessen Saum er unter den Gürtel gesteckt hatte, einen Wassersack aus Ziegenleder über die Schulter geschnallt, mit weißer Pumphose, gelben Babuschen, bimmelte mit einem Kupferglöckchen, ein Geisterecho vom Läuten der Ziegenglöckchen.
    – Sicheln. Linien und Sicheln ratterten der Esel und der Karren. Die Jungen blieben stehen, als sie einen Trauerzug sahen. Der taube Karrenlenker war in den Sielen gestorben.
    Seine mit Stroh gefüllten Lungen hatten keine Luft mehr bekommen, er hatte sein gesamtes Phlegma ausgehustet, von den Lymphdrüsen gekratzt wie Essensreste aus einem zerbeuteln Topf. Mitten auf dem Marktplatz der Stadt waren Leben und Karren plötzlich stehengeblieben. Nicht mal der Höllenlärm der Hupen konnte ihn noch wecken, und hätte es auch nicht gekonnt, wäre er noch am Leben gewesen. Seine Leiche wurde auf dem Karren aufgebahrt, um zum Friedhof gebracht zu werden. Freunde, Familienmitglieder und Krähen folgten ihm. Der Esel war so daran gewöhnt, daß sein träger Schritt von einem Husten unterbrochen wurde, der ihn und den Karren hochhüpfen ließ, daß er dies auch jetzt noch tat, obwohl sein Herr und Meister sich nicht mehr rührte. Alle paar Meter hickste der Karren, und die Leiche federte mit: Linien und –
    hops – Sicheln, so rhythmisch wie das Läuten der Ziegenglöckchen.
    In den grünen Tälern, wo Anemonen blühten, hütete ein alter Schäfer seine Herde und zerriß mit seiner Schalmei die kühle Stille. Das Echo erwiderte das Pfeifen. Am Narvelmeer zog der Fischer die Netze ein, schwer von Leichen und zappelndem Silber. Um ihn herum flatterten weiße Eulen und fragten »u-hu?«, um wieviel trauriger war dieser Gesang als das Läuten der Ziegenglöckchen!
    In der Fata Morgana wurde Paravion geboren, ein Spiel aus flirrenden Linien und ineinander verschwimmenden Farben.
    Die Kirchtürme schwiegen vor einem Hintergrund aus buckligen Wolken, die Glocken waren alt, und aus einer kaum sichtbaren Vergangenheit vernahmen sie, als wäre es eine Erinnerung aus Kinderzeiten, ihr eigenes Gebimmel wie das Läuten der Ziegenglöckchen.
    In der Bar Zach erzählten sich der Postbote, der Teppichhändler und der magere, noch lebende Eseltreiber Geschichten und schlürften süßen Minztee. Das Teehaus barst von Stimmen und haarsträubenden Geschichten. Draußen blühte ein Baum mit glasierten Äpfeln, die Zweige bogen sich unter der Last, und die Früchte schwankten auf und nieder, noch nicht ganz reif. Sie glänzten wie Billardkugeln. Der Eingang des Teehauses war mit einem Perlenvorhang verhängt, jeden Neuankömmling mit einem leisen Klimpern ankündigend, das klang wie das Läuten von Ziegenglöckchen.
    Unter den Feigenbäumen hing eine absinthgrüne Glut. Baba Baluk aß sein Brot, die Oliven und den Käse und schlummerte langsam ein. Ein unsichtbares Moped summte. Er

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