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Paravion

Paravion

Titel: Paravion Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: bouazza
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doch nur die physische Kommunikation.
    Nehmen wir doch mal die erotischen Eskapaden des verschwundenen Lehrers. Großer Gott! Was hatte der eine Auswahl an Frauen gehabt! So verschieden diese auch waren, alle hatten sie etwas gemeinsam, ohne genau sagen zu können was. Bei den Mannequins in den Versandkatalogen war es auch so – Otto und Neckermann mochte der Karrenlenker am liebsten –, diese durchblätterte er manchmal heimlich auf der Suche nach der Damenunterwäsche und nach der Seite mit der Sonnenbank, deren Sinn und Zweck er nicht begriff. Er hielt es für einen Kühlapparat. Aber es ging ihm natürlich um die Frau, die darauf lag. Vollkommen nackt! Na ja, der Lehrer jedenfalls hatte etwas Merkwürdiges und Exotisches an sich, was die jungen Frauen offensichtlich faszinierte, vielleicht war es die Sonne in seinen Adern oder aber der Äther in seinen Lungen, wer weiß. Er erinnerte sich deutlich an eine junge Frau, sie mußte verrückt sein, darüber waren sich alle im Teehaus einig.
    Ihr Name war Mamette, das Haar trug sie immer hochgesteckt und mit einem breiten Band zurückgehalten; ihre Kleidung war bunt und weit, »Zigeunerkleider«, wie sie selbst sagte, außerdem war sie über und über mit Schmuck und Perlen behängt. In ihrem Gesicht fand sich alles, was die Kosmetikindustrie zu bieten hatte: Grundierung, Mascara, Kajal, Smaragdgrün für die Augenlider, Karmesin für die Wangen und Rosa für die Lippen, glossig schimmernd wie ein Hochglanzmagazin. Schwer zu sagen, wie sie wirklich aussah, sie schminkte sich nicht, um Akzente zu setzen, sondern um ihre Gesichtszüge zu verdecken. Außerdem hatte sie auch dauernd etwas getrunken, geschnupft oder gespritzt.
    In der Straße mit den braunen Backsteingebäuden, wo sie wohnte, konnte, wer dort zufällig entlangging, fast jede Nacht unter ihrem orangefarbenen Fenster einen Schatten beobachten, der Steine dagegen schleuderte. Selbstverständlich besuchte er sie nur, wenn es dunkel war, denn tagsüber hatte er Wichtigeres zu tun. Da die Klingel in ihrer Wohnung kaputt war, mußte der Lehrer sich auf diese Weise bemerkbar machen. »Wohnung« war etwas viel gesagt für ihre Behausung, ein Zimmer mit einer winzigen Küchenzeile und einem Verhau, in den man mit Mühe ein Klo und eine Dusche gepfropft hatte. Weil sich auf den gepflasterten Wegen und Stegen von Paravion kaum ein Steinchen fand, benutzte der Lehrer eine Münze. Jedesmal, wenn er sein Projektil erneut suchen mußte, nachdem es zum x-ten Mal wirkungslos zurückgeprallt war, schwor er sich fluchend, das nächste Mal vorher eine Handvoll Kies einzustecken. Doch wenn er dann wieder unter dem Fenster stand, hatte er den Kies vergessen.
    Gelang es ihm schließlich, ins Haus zu kommen, sah er die wild- und buntbemalten Wände ihres Zimmers und all den billigen Stoff, den sie überall drapiert hatte, jede Ecke mit Paraphernalien gefüllt, und ihm wurde schlecht vom Weihrauch. In einer Vase standen Kunststoffrosen, und auf Beistelltischchen verteilt Schalen mit Modeschmuck, Pfauenfedern, Kitsch: Ihre Wohnung war ein regelrechter Basar. Der Lehrer verkörperte für sie alles, was sie in ihren Cannabis- und LSD-Träumen für orientalisch hielt, irgend etwas zwischen stinkendem Weihrauch und Krummdolchen aus Plastik. Solange es nur Schnörkel hatte, qualmte und rülpste oder sonstwie üppig und unecht war. Auf die eine Zimmerwand hatte sie eine Palme gemalt, vor einem Nachthimmel mit Mondsichel und einem verirrten Minarett; eine andere Wand bedeckten Bäume, die keine Blätter, sondern Flaum und Federn hatten, über ihnen flogen merkwürdige exotische Vögel, sie verloren die Federn, die zum Laub der Bäume wurden. Die dritte Wand war einem Zitronenbaum vorbehalten, er erhob sich vor einem weiß-roten Himmel. Das alles war sehr erfindungsreich in Szene gesetzt, doch unsicher und mit einem Zuviel an Farbe. Die Decke hatte sie mit rätselhaften Symbolen und Eidechsen überzogen, alles offensichtlich ihren Halluzinationen entsprungen.
    »Ich gehöre nicht hierher«, sagte sie manchesmal mit aufgerissenen Augen und mahlenden Kiefermuskeln. »Mein Körper ist hier zwar geboren, aber meine Seele nicht.
    Eigentlich komme ich aus Samarkand oder Shiraz.«
    In solchen Augenblicken wußte er, daß er den Sex vergessen konnte. Dann verlor sie sich nämlich vollkommen in ihrer Gedankenwelt. Meist nahm er dann ein Reader’s Digest-Heft (»Das Beste für Paravion«) vom Stapel, der in einer Ecke stand, und blätterte

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