Parrish Plessis 01 - Nylon Angel
besitze, gegen ein wenig Zeit in deiner Behausung eintauschen, ja?« Inzwischen war ich ihm nahe genug gekommen, um die Umrisse seines Gesichts und seiner Schultern erkennen zu können. Sein Messer zielte auf eins meiner Augen.
»Tasche öffnen; hinstellen«, befahl er.
Ich tat, was er sagte, und schob sie zu ihm hinüber. Gierig griff er danach.
Als er sich nach vorne beugte, rollte ich blitzschnell zur Seite, zog mein größtes Messer und drückte es an seine Kehle, nachdem ich ihn entwaffnet hatte. Im gleichen Augenblick spürte ich, wie sich der Lauf einer Halbautomatik langsam gegen meinen Bauch presste.
»Lustig, lustig«, flüsterte der Kerl heiser. »Was nun?«
Aus seinem Mund drang der Gestank von blutigem, verrottetem Fleisch. Bei dem Geruch wäre ich beinahe ohnmächtig geworden.
»Mein Finger am Abzug ist schneller als dein Messer. Ich gewinne.« Wieder stieß er ein raues Lachen aus.
Ich zögerte eine Sekunde, dann zwang ich mich zu einem Grinsen. »Du gewinnst.«
Angesichts meiner Kapitulation löste er seinen Griff um die Pistole – ob nun aus Erschöpfung oder falscher Einschätzung –, aber immerhin lange genug, dass ich ihm die Waffe mit ganzer Kraft aus der Hand schleudern konnte. Sie fiel mit einem metallischen Krachen auf den Boden.
Ohne zu zögern, presste ich ihm meine Klinge fester an die Kehle.
»Hattest gar keine Munition drin, was?«
Nun konnte ich seine Gesichtszüge klar erkennen: eine lange Nase, faltige, eingefallene Wangen und Augen wie schmutziges Kopfsteinpflaster.
Der Kerl zuckte mit den Schultern. »Gut, du gewinnst. Wie viel Trunk dir bezahlt, damit du mich nach Hause bringst?« Mit einer Hand strich er über die Seitenwand des Kanalrohrs.
Langsam und mit größter Vorsicht nahm ich das Messer von seiner Kehle. Ich hielt es weiter vor mich gestreckt, während ich mich kriechend von ihm entfernte. »Nichts. Wie ich gesagt habe, ich brauche nur einen Unterschlupf bis heute Nacht – sonst nichts.«
Er starrte mich verständnislos an. »Du bringst nicht um?«
Dieses Mal musste ich wirklich lächeln. »Ich heiße Parrish.«
Er antwortete mir mit einem Luftzug seines fauligen Atems. »Gwynn.«
Ich nahm meine Tasche wieder an mich und wühlte mit einer Hand darin herum. Innerlich dankte ich Daac, als ich fand, wonach ich suchte. Ich zog einen Streifen Munition hervor und hielt ihn Gwynn unter die Nase.
»Passt die in deine Waffe?«
Er sah sich den Patronenstreifen genau an und nickte dann begeistert.
»Wenn ich wieder gehe, gehört sie dir. Als Entschädigung. Wird dir helfen deine… Bude zu verteidigen. Einverstanden?«
Ich zog mich zum anderen Ende des Rohrs zurück. »Ich werde dich nicht belästigen.«
Dem hatte Gwynn scheinbar nichts entgegenzusetzen. Er sank wieder in sich zusammen, als hätte jemand auf ihn getreten. Von dort, wo ich saß, sah es aus, als zittere er. Wie um alles in der Welt bekam er zu essen?, fragte ich mich.
Nach einer halben Stunde fand ich eine Antwort darauf. Eine abgemergelte Gestalt kroch durch die Öffnung des Kanals zu Gwynn. Die beiden unterhielten sich im Flüsterton. Den alten Mann schien die Unterhaltung glücklich zu machen. Nachdem sie etwas ausgetauscht hatten, kroch die Gestalt wieder davon.
Er sprach mich völlig überraschend an. »Möchtest du Essen, Parrish?« Er hielt mir eine Hand voll Speisereste entgegen.
Ich war kurz vor dem Verhungern, und in meinem Mantel hatte ich noch ein Paket ordentlicher Nahrung aus Annas gut gefülltem Kühlschrank. Es beschämte mich, dass ich Gwynn nichts davon angeboten hatte, während er etwas mit mir teilen wollte, das noch nicht einmal eine Ratte angerührt hätte.
Aber er hatte auch versucht, mich auszurauben!
»Nein danke, Gwynn.«
Er schien erleichtert und schlang die Reste binnen weniger Sekunden herunter. Die kleine Stärkung schien seine Redelust zu entfachen. »Warum jagen sie dich, Parrish?«
Ich zögerte. Wie viel konnte ich dieser alten Kreatur anvertrauen?
Abermals entschied ich mich für eine Kurzfassung der Wahrheit. »Sie denken, dass ich die Braut aus dem Fernsehen ermordet habe.«
Gwynn stieß ein lautloses Pfeifen aus. »Schlecht.«
»Ja. Und gelogen.«
»Wie willst du entkommen?«
Ich lächelte grimmig. »Keine Ahnung.«
»Weißt du, wer es getan hat?«, fragte er.
»Vielleicht.«
Eine Weile saßen wir still nebeneinander. Gwynn schien eingeschlafen zu sein.
Meine Gedanken wanderten zu Anna Schaums Anwesen.
War Ibis mittlerweile zum Emporium
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