Patria
Dann die Sintflut. Gott trägt Noah auf, sieben Paare von reinen Tieren und ein Paar unreiner Tiere auf die Arche zu bringen. In einem anderen Teil der Genesis ist jedoch nur von einem Paar jeder Art die Rede. In einem Vers lässt Noah einen Raben fliegen, um nach Land zu suchen, im einem anderen ist es eine Taube. Selbst bei der Dauer der Sintflut gibt es Widersprüche. Waren es vierzig Tage und Nächte oder dreihundertsiebzig? Es gibt im Text beide Angaben. Ganz zu schweigen von den Doppel- und Dreifachbenennungen, die immer wieder auftauchen, wie zum Beispiel die verschiedenen Namen Gottes. In einem Teil des Textes wird Gott Jahwe oder Jahve beziehungsweise Jehova genannt, in einem anderen Elohim. Sollte man nicht meinen, dass wenigstens bei Gottes Namen Beständigkeit herrschen müsste?«
Einen Augenblick lang blitzte in Malone die Erinnerung an ein einige Monate zurückliegendes Erlebnis in Frankreich auf, bei dem er eine ganz ähnliche Kritik über die vier Evangelien des Neuen Testaments gehört hatte.
»Inzwischen stimmt man offiziell überein, dass das Alte Testament während einer sehr langen Zeitspanne von verschiedenen Autoren verfasst wurde. Schreiber verfassten durch geschicktes Zusammentragen aus unterschiedlichsten Quellen ein Sammelwerk. Diese Schlussfolgerung liegt auf der Hand und ist nichts Neues. Ein spanischer Philosoph des zwölften Jahrhunderts hielt als einer der Ersten fest, dass Genesis 12:6 – Die Kanaaniter waren damals im Land – nicht von Moses verfasst worden sein konnte. Wie hätte Moses auch der Autor aller fünf Bücher sein können, wenn doch im letzten Buch Zeit und Umstände seines Todes genau beschrieben wurden?
Und dann die vielen im Text enthaltenen Anmerkungen. Wie zum Beispiel, wenn die alte Bezeichnung eines Ortes verwendet wird, und im Text dann die Anmerkung folgt, dass dieser Ort bis zum heutigen Tag zu besichtigen sei. All dies deutet zweifelsfrei auf spätere Einflüsse hin, Änderungen und Ergänzungen, durch die die Texte erweitert und ausgeschmückt wurden.«
»Und bei jeder dieser Änderungen«, warf Malone ein, »ging ein weiterer Teil der ursprünglichen Bedeutung des Textes verloren.«
»Zweifellos. Nach anerkannten Schätzungen wurde das Alte Testament zwischen 1000 und 586 v. Chr. verfasst. Zwischen 500 und 400 v. Chr. wurden weitere Teile eingefügt. Man vermutet, dass die letzten Änderungen am Text bis maximal 300 v. Chr. vorgenommen wurden, aber genau weiß das keiner. Wir wissen nur, dass das Alte Testament der reinste Flickenteppich ist, dessen einzelne Flickstücke unter sehr unterschiedlichen historischen und politischen Bedingungen geschrieben wurden und unterschiedliche religiöse Weltsichten ausdrücken.«
»Du hast vollkommen recht«, erwiderte Malone, der wieder an die inneren Widersprüche des Neuen Testaments dachte, mit denen er kürzlich in Frankreich zu tun gehabt hatte. »Wirklich, ich bin ganz deiner Meinung. Aber nichts von dem, was du da sagst, ist irgendwie weltbewegend. Die Leute halten das Alte Testament für das Wort Gottes oder für eine Sammlung alter Legenden. Na und?«
»Aber was, wenn das Wort Gottes so stark verändert worden wäre, dass seine ursprüngliche Botschaft gar nicht mehr zu erkennen ist? Was, wenn das Alte Testament, wie wir es kennen, nie der Ursprungstext war? Das könnte doch vieles ändern.«
»Ich höre.«
»Genau das mag ich an dir«, bemerkte Haddad lächelnd. »Du bist ein ausgezeichneter Zuhörer.«
Malone sah Pam an, dass sie nicht unbedingt derselben Meinung war, doch sie hielt Wort und schwieg.
»Wir beide haben uns schon früher darüber unterhalten«, fuhr Haddad fort. »Das Alte Testament unterscheidet sich grundlegend vom Neuen. Viele Christen nehmen das Neue Testament wörtlich und gehen darin sogar so weit, es als historischen Bericht anzusehen. Doch die Geschichten von den Patriarchen, der Eroberung Kanaans und dem Auszug aus Ägypten sind keine historischen Fakten. Sie sind vielmehr der kreative Ausdruck einer religiösen Reform, die sich in einem Landstrich ereignet hat, der vor sehr langer Zeit einmal Judäa hieß. Gewiss liegt diesen Berichten das eine oder andere Körnchen historischer Wahrheit zugrunde, aber sie sind insgesamt doch weit mehr fiktive Erzählung als Tatsachenbericht.
Kain und Abel können hier gut als Beispiel herhalten. Zum Zeitpunkt der Geschichte gab es nur vier Menschen auf Erden: Adam, Eva, Kain und Abel. Und doch berichtet Genesis 4:17 Kain erkannte seine
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