Pendelverkehr: Ein Eifel-Krimi (German Edition)
noch nicht begriffen zu
haben und erhoffst dir immer noch Hilfe von der falschen Schlange – warum sonst
hast du unser beider Namen auf die herausgerissene Buchseite geschrieben?
Viel leichteren Herzens betrete ich den Waldweg. Ich werde nicht der
Mörderin, sondern dem nächsten Opfer auf ihrer Liste begegnen. Und Cora das
Leben retten.
Ich muss nicht warten. Zwischen den Fichtenstämmen erkenne ich von
Weitem den grauen Jogginganzug. Es sieht so aus, als säße Cora unter der Eibe.
Ich rufe ihren Namen und beschleunige meinen Schritt. Hinter mir raschelt es.
Schnell drehe ich mich um, sehe aber nichts Bedrohliches.
Wahrscheinlich ist ein Reh, ein Kaninchen oder ein Wildschwein vorbeigehuscht.
Lass es nicht Gaby sein, bete ich zu einem Gott, an den ich nicht glaube. Es
kann nicht Gaby sein. Marcel und Josef beschatten sie doch. Hoffentlich.
Cora reagiert nicht auf meine Rufe. Ich fange an, querwaldein zu
rennen, stolpere über Wurzeln und meine Füße. Seitenstiche machen mir das Atmen
fast unerträglich.
Dann stehe ich vor der Eibe. Cora liegt zusammengesunken darunter.
»Wach auf, Cora«, stoße ich keuchend hervor, bücke mich zu ihr hinab
und schüttele sie. Ihr Körper ist fast so schlaff wie der einer Puppe. Ich
fühle ihren Puls. Sie lebt noch. Ich schlage ihr ins Gesicht. Die Augen öffnen
sich halb.
»Was …«
Mehr kann sie nicht sagen. Ich packe den widerstandslosen mageren
Leib, schiebe ihn zur Eibe und versuche, den Oberkörper am Stamm aufzurichten.
Dann geht alles ganz schnell. Die Puppe, die ich mit einem Arm
umfasse, ist plötzlich sehr lebendig. Ihr rechter Arm bewegt sich rasend
schnell. Ich sehe eine Spritze. Und spüre einen Stich im Hals.
Jüngstes Gericht
Crème brûlée
mit roten Waldbeeren, kandiertem weißen Wiesenkerbel und kross gerösteten
Nadeln von Rosmarin
Entsetzt fahre ich zurück und greife mir an den Hals. Zu
spät. Cora hat die Nadel bereits herausgezogen und schwenkt spitzbübisch die
leere Spritze.
»Alles in Ordnung, Katja«, sagt sie fröhlich, »keine Angst, das wird
dir guttun.«
Ich starre entgeistert auf meinen blutigen Finger. Mein Gott, die
Frau hat mir eine Spritze in die Halsvene gejagt! Cora! Wieso Cora? Sie
ermordet mich! Ich will aufspringen, aber die Beine versagen mir den Dienst.
Meine Muskeln gehorchen mir nicht; mir ist schwindlig. Herr im Himmel, das Gift
wirkt schon! Hinterrücks plumpse ich in den Farn.
»Mörderin!«, bringe ich keuchend hervor.
»Aber nicht doch, Katja, beruhige dich, alles wird gut«, sagt sie,
tröstend wie zu einem kleinen Kind. Sie steht auf und hockt sich neben mich.
Sanft streicht sie mir die Haare aus der Stirn.
»Hilfe!«
Der Schrei gleicht eher einem Flüstern und läuft in ein Röcheln aus.
Als drehe meine Lunge den Lufthahn langsam zu. Das ist das Ende. Gleich wird
mein Leben an mir vorüberziehen, und dann ist alles vorbei. Nach Mutter Agnes,
Hans-Peter und Holger Eichhorn bin ich Coras nächstes Opfer. Nichts kann die
Wirkung des Taxins, dieses seltsamen Alkaloidgemischs, aufhalten, hat Hein
gesagt. Es gibt kein Gegenmittel. Und im Herbst soll die Eibe besonders viel
davon produzieren, viel mehr als im Frühling. Das kam den lebensmüden Alten unter
den alten Germanen sicher entgegen; dann brauchten sie sich nicht durch einen
weiteren strengen Winter zu quälen.
Auch ich werde keinen Winter mehr erleben. Ich werde sterben. Und
zwar sehr bald. Vielleicht schon innerhalb der nächsten Stunde. Nach einem
furchtbaren Todeskampf. Von dem keine Spuren bleiben werden, weil die
wahnsinnige Cora meine Leiche sicherlich genauso liebevoll herrichten und
betten wird wie die von Mutter Agnes.
Warum? Was habe ich dieser Frau nur angetan? Sie muss verrückt
geworden sein. Oder war es wohl immer schon. Gaby hatte mich vor der
Borderlinerin gewarnt, aber ich war so arrogant, meiner eigenen
Menschenkenntnis zu vertrauen. Zu spät kommt Demut auf, laut André Gide die
Pforte zum Paradies. Die Demütigung, die Pforte zur Hölle, ist bereits weit
aufgestoßen, denn ich bin der wahnsinnigen Cora hilflos ausgeliefert.
Himmel oder Hölle, gleich werde ich es wissen. Ich lausche in mich
hinein, aber da geschieht nichts Erschreckendes. Ich habe keine Todesangst.
Ganz im Gegenteil, mir ist federleicht um Hirn und Herz. Ich fühle mich
angenehm entspannt, gönne mir Erholung wie nach einem langen Spaziergang und
bin nach dem ersten Schrecken auf einmal nicht mehr im Geringsten aufgeregt.
Als sei diese Demütigung mit meinem
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