Perfekte Manner gibt es nicht
Letzte, was sie in den nächsten fünf Minuten von ihm sah.
Es waren die längsten fünf Minuten ihres Lebens.
Inzwischen blies der Wind so heftig, dass er sie zu durchschneiden schien. Sicher waren ihre Ohren am Kopf festgefroren, und sie wagte sie nicht zu berühren, aus Angst, sie würden abbrechen.
Warum hatte sie keine Mütze mitgenommen? Klar, die würde ihr Haar zusammendrücken. Aber dann könnten wenigstens nicht achtzig Prozent ihrer Körperwärme durch den Kopf entweichen, so wie jetzt.
Was geschah in ihrem Magen? Die Kräcker, die sie zum Frühstück gegessen hatte, kamen ihr jetzt vor wie ein ferner Traum. Zum ersten Mal erschien es ihr möglich, einen ebenso nach innen gewölbten Bauch zu erlangen wie die anderen Frauen am Strand.
Und ihre Augen? Im scharfen Wind tränten sie so stark, dass sie kaum noch etwas sah.
Doch sie konnte immer noch klar denken. Aber ihre Gedanken kreisten nicht um die Gefahr, dass man irgendwann ihre erfrorene Leiche finden würde, wenn sie noch länger in der arktischen Kälte stand. So wie das arme Mädchen mit den Schwefelhölzern.
Nein, sie dachte an Jack Townsend, an seinen Kuss, an die Emotionen, die er in ihr geweckt hatte.
Zum ersten Mal seit langer Zeit hatte sie sich wieder begehrenswert gefühlt, nicht wie ein wandelndes Textverarbeitungsprogramm. Sie hatte mal eine Episode von Raumschiff Enterprise gesehen, in der Captain Kirk und seine Crew einer Rasse von Aliens begegneten. Die waren so hoch entwickelt, dass sie keine Körper mehr brauchten, sie waren einfach nur Gehirne, die in Glaskästen umherschwebten.
So hatte sie sich seit der Trennung von Barry gefühlt. Wie ein körperloses Gehirn.
Und das hatte sie nicht einmal gestört, denn es war viel einfacher, nur als Gehirn zu existieren, ohne Sehnsucht und Verlangen.
Erstaunlicherweise hatte Jack Townsend wieder eine ganze Frau aus ihr gemacht. Er erinnerte sie daran, dass ein Körper nicht nur den Zweck erfüllte, ein Gehirn zu umhüllen, das anscheinend sehr gefragt war, seit es Hindenburg produziert hatte.
Ganz eindeutig, ihr Körper verdankte ihm eine Gefühlsexplosion – was sie allerdings nicht überbewerten durfte.
Kein Wunder, dass sie dermaßen ausgeflippt war … Immerhin hatte Jack Townsend diese Leistung vollbracht, der Mann, den jede Frau in Hollywood – sogar jede Frau in ganz Amerika – heiß begehrte. Aber für Lou kam eine engere Beziehung zu einem Star nicht infrage. Damit würde sie gar nicht erst anfangen. Und doch – dieser Kuss …
Und danach hatte er darüber reden wollen. Als würde eine Analyse der Ereignisse ihr helfen, diese verstörenden Emotionen zu vergessen. Auf ihrem Totenbett würde sie immer noch an den Kuss denken, ohne jeden Zweifel.
Typisch Jack, ein Gespräch vorzuschlagen … Er wollte ja auch ständig über die Beweggründe der Leute nachdenken, die er vor der Kamera darstellte. Also würde er auch seine eigenen Motive gnadenlos zerreden.
Nun, diese Genugtuung würde sie ihm nicht verschaffen. Außerdem gehörte der Kuss jetzt ihr . Den konnte er ihr nicht mit rationalen Erklärungen wegnehmen. Diesen Kuss hatte sie erlebt, und darüber war
sie sehr froh, weil es ihr bewies, dass sie innerlich noch nicht abgestorben war. Das hatte sie nämlich befürchtet.
Und sie war froh, dass er die Sache durch sein Diskussionsangebot beendet hatte. Es würde nicht noch einmal passieren. Sie hatten es versucht, es funktionierte nicht – dafür hatte sie mit ihrem Selbstverteidigungstrick gesorgt. Und jetzt konnten sie zur altgewohnten gegenseitigen Abneigung zurückkehren. Es war – vorbei .
Zu ihrer Verblüffung flammte Licht im Haus auf, und sie musste ihre Augen nicht mehr mit den Händen abschirmen, um zu beobachten, wie Jack das Wohnzimmer durchquerte. Wortlos starrte sie ihn an, als er die Tür aufsperrte und öffnete.
»Hi«, sagte er mit seinem allerschönsten Lächeln, das er normalerweise für die Presse reservierte. »Du kommst gerade zur rechten Zeit. Willst du nicht eintreten?«
»Aber … aber … wieso …?«, stotterte sie.
»Die Kellertür war nicht verschlossen«, verkündete er, und das Lächeln erlosch. »Die meisten Leute schlie ßen ihre Kellertüren nicht ab, wenn sie ihre Sommerhäuser verlassen. Zumindest haben wir das niemals getan.«
Und dann zog er sie ins Haus.
Bevor er die Tür schloss, fand sie gerade noch genug Zeit, zu denken: O mein Gott, ich habe gelogen – es ist doch noch nicht vorbei …
17
Es war eine Jagdhütte, kein
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