Pfefferkuchenhaus - Kriminalroman
erkennen.«
Sie betrachtete zwei der Bilder, ohne dass eines der Kinder ihr bekannt vorkam. Auf der dritten Fotografie, auf deren Rückseite notiert war, dass es sich um den Vorschuljahrgang 68/69 handelte, entdeckte sie ihn sofort. Sie deutete auf einen kleinen Jungen mit hellblonden, zerzausten Haaren und einem breiten Lächeln im Gesicht. Er kniete in der Mitte der ersten Reihe und machte den Eindruck, als würde er gleich davonlaufen. Er trug ein groß kariertes Flanellhemd, das einen Teil seines Bauches frei ließ. Auch die Ärmel waren zu kurz, sie reichten nur bis zur Hälfte des Unterarms. Er war ohne Zweifel derjenige, an dem der Blick des Betrachters zuerst hängen blieb.
»Das ist er«, sagte Pia Vannerberg mit gebrochener Stimme. »Das ist Hans, gar keine Frage.«
»Hat Hans in Katrineholm gewohnt?«, fragte Sjöberg.
»Er ist dort geboren. Ich weiß auch, dass er eine Weile dort gewohnt hat, aber nicht, bis wann. Er ist als Kind so oft umgezogen. Da müssen Sie Gun fragen.«
»Bislang bin ich davon ausgegangen, dass ich das schon getan hätte«, bemerkte Sjöberg kryptisch, »aber da hat es wohl ein Missverständnis gegeben.«
Er stand auf und streckte die Hand aus.
»Vielen Dank, Frau Vannerberg. Sie waren mir wirklich eine große Hilfe. Und entschuldigen Sie bitte die Störung.«
»Keine Ursache«, antwortete Pia Vannerberg und erwiderte kraftlos seinen Händedruck, ohne sich dabei vom Sofa zu erheben.
Er sammelte die Fotos ein, steckte den Umschlag zurück in die Jackentasche und verließ das Heim der Familie Vannerberg.
Auf dem Bahnsteig der U-Bahn-Station wehte der Wind so kräftig, dass er hinter einer Wand Schutz suchen musste. An Samstagen fuhren die Züge nicht besonders oft. Auf den nächsten würde er noch mehr als zehn Minuten warten müssen. Sjöberg vergrub die Hände tief in den Taschen und lief auf dem Bahnsteig auf und ab, um nicht zu frieren. Er dachte an all die Missverständnisse rund um den kleinen södermanländischen Ort Österåker und verfluchte seine eigene Beschränktheit. Ingrid Johansson hatte bereits bei ihrer ersten Begegnung, kurz nachdem sie die Leiche von Hans Vannerberg auf ihrem Küchenboden gefunden hatte, erzählt, dass sie in Österåker gewohnt hatte, bevor sie nach Enskede gezogen war. Er war wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass es sich dabei um das große Österåker vor den Toren Stockholms handelte, und hatte nicht weiter darüber nachgedacht. Das war nachlässig von ihm gewesen. Dann rief er sich das Gespräch mit Gun Vannerberg vom gestrigen Tag ins Gedächtnis.
»Ich wollte nur mal hören, ob du irgendwann einmal in Österåker gewohnt hast?«, hatte er gefragt.
»Nein, wir haben nur in Städten gelebt«, hatte Gun Vannerberg geantwortet.
»Ich meine, mich zu erinnern, dass du auch Hallsberg erwähnt hast. Aber Hallsberg ist doch keine Stadt.«
»Jedenfalls ist es größer als Österåker«, hatte sie darauf geantwortet, und aus ihrer Perspektive hatte sie damit auch recht gehabt.
»Hast du sonst noch irgendwo in der Gegend von Stockholm gewohnt?«, hatte Sjöberg weitergefragt.
»Ob wir jemals irgendwo in der Gegend von Stockholm gewohnt haben?«, hatte sie geantwortet, und Sjöberg kam sich nachträglich vor wie in einer schlechten Komödie.
Was es im Grunde ja auch war, nur dass er für die Lacher gesorgt hatte.
Er zückte sein Handy und rief noch einmal bei Gun Vannerberg an. Endlich ging sie ans Telefon.
»Entschuldige, dass ich am Samstagvormittag anrufe und störe«, begann Sjöberg höflich. »Hab ich dich geweckt?«
»Ja«, antwortete Gun Vannerberg verschlafen. »Ich habe heute Nacht gearbeitet.«
»Ich wollte nur fragen, ob du und Hans irgendwann in Katrineholm gewohnt haben.«
»Das scheint ja wahnsinnig wichtig für dich zu sein, wann wir wo gelebt haben. Ja, wir haben auch in Katrineholm gewohnt. Ziemlich lange sogar. Ich bin in Katrineholm aufgewachsen, und wir haben dort gewohnt, bis Hans in die Schule kommen sollte. Dann sind wir nach Kumla gezogen.«
»Warum hast du das nicht früher gesagt?«
»Ich hab dir eine ganze Latte von Orten aufgezählt, in denen wir mal gewohnt haben.«
»Katrineholm hast du nie erwähnt.«
»Spielt das denn eine Rolle?«
»Ja.«
Für eine Weile blieb es still in der Leitung, bis Gun Vannerberg wieder das Wort ergriff.
»Ich glaube, wir haben darüber gesprochen, dass wir von einem Ort zum anderen gezogen sind. Aber nach Katrineholm sind wir ja nie hingezogen, sondern nur
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