Pitch Black
sie ihn wirklich nicht belasten.
Während der etwa fünfzehn Minuten dauernden Heimfahrt sah sie plötzlich aus dem Augenwinkel, dass Ethans Kopf auf und ab hüpfte. Als sie genauer hinsah, stellte sie fest, dass er eingeschlafen war, den Kopf gegen das Fenster gelehnt. Also würden sie wohl nicht essen gehen, sondern zu Hause irgendetwas zusammenbrutzeln. Armer Junge–die Erschöpfung war größer als der Hunger. Das hatte sie auch noch nicht erlebt.
Dank gründlicher Lektüre hatte sie sich auf viele Situationen einstellen können, die auf eine Mutter zukommen konnten. Aber nichts hatte sie auf den bohrenden Schmerz in ihrer Brust vorbereitet, den dicken Kloß im Hals und das heftige Übelkeitsgefühl–das sie nun heimsuchte, da ihr Sohn zutiefst unglücklich war. Kein Buch hatte sie gegen das Ohnmachtsgefühl wappnen können, das sie erfasste, weil sie seinen Schmerz nicht lindern und ihm keine Hoffnung machen konnte.
Die Worte ihrer Mutter fielen ihr wieder ein. Eines Tages wirst du das verstehen…wenn du selbst Kinder hast. Meine Güte, hätte ihre Mutter ihr denn nicht mehr als bloß ein paar Allgemeinplätze mit auf den Weg geben können?
Unwillkürlich huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. Als ob ich auf sie gehört hätte.
Sie holte tief Luft und gestand sich ein, wie viel Kummer sie ihrer Mutter bereitet hatte, vorsätzlich und aus Unachtsamkeit.
Was ihren Vater anging, so war sie zutiefst davon überzeugt, dass er jeden Schmerz verdient hatte, den sie ihm zugefügt hatte. Obwohl sie bezweifelte, dass ihm die Pfeile, die sie bewusst gegen ihn abgeschossen hatte, groß etwas ausgemacht hatten. Und irgendwie bekam sie jetzt wohl doch noch die Quittung dafür. Aber warum musste ausgerechnet Ethan deswegen leiden?
Um die düstere Stimmung abzuschütteln–wenn Ethan wach wurde, musste sie unbedingt besser drauf sein–, konzentrierte sie sich auf die Landschaft. Sie liebte die schmale Straße, die zu ihrem Haus führte. Die meiste Zeit ging es bergauf, weshalb sie aus ihrem Küchenfenster solch einen fantastischen Ausblick hatte und weshalb das Haus so viel weiter außerhalb zu liegen schien, als es tatsächlich der Fall war.
Sobald sie sich der Bahnunterführung näherte, drosselte sie die Geschwindigkeit. Die Unterführung war vor so langer Zeit gebaut worden, dass nur jeweils ein einzelnes Fahrzeug hindurchpasste, und noch dazu lag die Durchfahrt mitten in einer scharfen Kurve. Es war wirklich schwierig zu sehen, ob einem ein Wagen entgegenkam. Auf der Turnbull Road herrschte zwar nicht viel Verkehr, aber Vorsicht war dennoch angeraten.
Bei einem der ersten Male, als sie diese Straße entlanggefahren war, hätte sie beinahe einen Frontalzusammenstoß mit einem Pick-up gehabt, auf dessen Motorhaube ein Hirschkadaver festgeschnallt war. Sie war zu schnell um die Kurve gebogen, und schon kam der Hirsch geradewegs auf ihre Windschutzscheibe zugerast.
Der alte Mann in dem Pick-up hatte wie wild gehupt und ihr dann im Vorbeifahren den Stinkefinger gezeigt. Sie war wie gelähmt mitten auf der Straße stehen geblieben und hatte in den Rückspiegel gestarrt. Aufgefallen war ihr nur ein großer »Jesus ist der Herr«-Aufkleber auf der hinteren Stoßstange–keine Seltenheit in dieser Gegend. Folglich hatte sie auch nie herausgefunden, wer der alte Knacker war. Schade, denn es war nicht mal Jagdsaison gewesen–sie hätte sich für seine höfliche Geste mit einem Anruf bei der Naturschutzbehörde bedanken können.
Noch immer angespannt lenkte sie den Wagen durch das Nadelöhr unter der Bahnlinie. Heute reichte die friedliche Landschaft offensichtlich nicht aus, um ihre Nerven zu beruhigen.
Vielleicht, wenn sie tief durchatmete…
Als sie um die letzte Kurve bog, bot sich ihr ein unerwarteter Anblick–der mit einem Schlag die schwarzen Gedanken verscheuchte. Gabes Geländewagen stand vor ihrem Haus.
Er stieg aus und winkte ihr lächelnd zu, während sie in die Auffahrt fuhr. Ein unglaubliches Glücksgefühl ließ sie leise erschauern.
Ethan rührte sich nicht, als sie den Motor abstellte. Sie stieg aus und schloss leise die Tür.
Gabe kam mit seinem für Südstaatler so typischen gemächlichen Schritt die Auffahrt hinaufgeschlendert. Sofort waren alle ihre Nervenenden in höchster Alarmbereitschaft.
»N’Abend, Maddie«, sagte er und grinste sie verschmitzt an.
Die Wärme in seiner rauen Stimme wirkte auf sie gleichzeitig beruhigend und aufwühlend.
»N’Abend, Sheriff.« Ihr Versuch, seinen
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