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Pixity - Stadt der Unsichtbaren

Pixity - Stadt der Unsichtbaren

Titel: Pixity - Stadt der Unsichtbaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Paul Rudolph
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veränderte, wurde ständig neu gezeichnet, dreißig oder hundert Mal in der Sekunde. Und es gab auch hier eine wachende Instanz, eine Kraft über den Dingen, die alles kontrollierte und sogleich eingriff, wenn irgendeine Veränderung anzuzeigen war, das Bild durch eine Operation des Anwenders revidiert werden musste. So fußte alles auf totaler Überwachung, Augenwischerei, optischer Täuschung, dem Vorspiegeln falscher Tatsachen. Was ein Wunder schien, war alltägliche Routine, was man nicht beachtete, weil es einem nicht wichtig genug erschien, beruhte auf einer genialen Eingebung des Programmierers. Das waren die Grundpfeiler von Interaktion und Kommunikation.
    Erst als das Telefon klingelte, merkte Bentner, dass er angefangen hatte, in den Schubladen der Kommode zu wühlen. Vielleicht existierte Olivias Weihnachtskarte mit der an den Rand gekritzelten Telefonnummer noch, nicht einmal das Jahr wusste Bentner, voriges Jahr, vorvoriges Jahr. Er ging zum Telefon und nahm den Hörer ab, Olivia würde es nicht sein, wer überhaupt? Lisa.
    »Ich wollte mich noch einmal bedanken.«
    Das müsse sie aber nicht. Doch, das müsse sie. Sie hätte verhungern können, wenigstens verdursten, und dann hätte man eines schönen Tages ihre Leiche inmitten von Fäkalien gefunden, so wolle doch niemand enden.
    »Nein«, sagte Bentner, »aber du hast doch Freunde und Familie, denen wäre doch aufgefallen, dass …«
    Lisa unterbrach ihn.
    »Kann sein. Nicht sicher. Aber jede Minute, die du mir erspart hast, ist ein Geschenk des Himmels. Ich habe nachgedacht.«
    Sie hatte nachgedacht. Bentner machte ein »hm«, was alles Mögliche bedeuten konnte.
    »Ich habe nachgedacht, ja. Wie ist derjenige an meinen Schlüssel gekommen? An meinen Nick? Okay, ich hab den Nick und das Passwort auf einem Zettel notiert, liegt irgendwo auf dem Schreibtisch. Aber das heißt doch: Derjenige muss in der Firma gewesen sein. Er muss sich einen Abdruck von dem Schlüssel besorgt haben. Liegt ja immer in meiner Handtasche und die steht rum, ist nun mal so.«
    Bentner verkniff es sich, ihr zu sagen, dass die Sache noch komplizierter war. Noch komplizierter oder noch einfacher.
    »Und«, sagte Lisa weiter, »vor ein paar Tagen ist jemand aus der Firma umgebracht worden. Ist das Zufall?«
    »Ich weiß es nicht«, sagte Bentner, der plötzlich Hunger hatte, an Gyros, Dampfnudeln und Glühwein dachte, um sich den Appetit zu verderben, doch bevor er es geschafft hatte, sagte Lisa:
    »Lad mich mal heute Abend zum Essen ein. Corinne geht mir dermaßen auf den Sack.«
    Schaute man nach oben, zwischen all den Lichtern hindurch, sah man, dass es längst dunkel geworden war. Das hatte Bentner an Pixity immer gestört, dieses ewige Tagsein in den Parks und Stadien, auf den Wiesen am idyllischen Fluss, in den Freibädern sowieso. Selbst in den Räumen gab es keine Nacht, blinzelte blauer, von weißen Wölkchen grafisch aufgelockerter Himmel durch die Fenster. Schon Gorland hatte die Anregung, die Bilder nicht nur auf Jahres-, sondern auch Tageszeiten abzustimmen, wie einen unsittlichen Antrag zurückgewiesen. Von der Programmierung her kein Problem, eine simple Zeitschaltung, keine zehn Zeilen Code. Alina mit dem abschließenden Machtwort: »Ach was, das geht doch den Kids am Arsch vorbei«, und dabei war es geblieben.
    Der letzte lange Samstag vor den Festtagen. Unendlich mühsam schob sich die Menge, Bentner mittendrin, durch die Fußgängerzone, in der sich die Verkaufsbuden des Weihnachtsmarktes selbst im Weg standen, all die künstlichen Gerüche in der Luft, Lebkuchen und heiße Kastanien, original fränkische Bratwürste und Zimtwaffeln, Duftkerzen und Kotzlachen mit Glühweingeschmack.
    Bentner hatte gar nicht erst versucht, einen Platz im Parkhaus zu ergattern. Sein Wagen stand in einer vorstädtischen Seitenstraße nahe einer Haltestelle der S-Bahn, von der aus die Sardinen zum Geldausgeben in die Innenstadt befördert wurden, Dreiminutentakt und dennoch in einer Bedrängnis, die einen hoffen ließ, manchen Menschen möge aufgehen, dass man sich auch unter den Achseln waschen sollte.
    Eine halbe Stunde hatte er telefonieren müssen, dann endlich beim Nobelitaliener einmal nicht das gestresste »Sorry, Weihnachtsfeier, wir sind total dicht« zu hören bekommen. Rückruf bei Lisa, die inbrünstig Corinnes Mütterlichkeit nebst makrobiotischer Ernährung zu entfliehen trachtete, ein lüsternes »Ui, Carbonara alla chef!« durch die Leitung gekeucht und ein

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