Ploetzlich Mensch
irrationales, von Adrenalin berauschtes, menschliches Gehirn zurückführte.
Noch ehe Frau Schmidts Blick von Nelly zurück zu ihm wandern konnte, schnellten seine Hände vor und griffen nach dem Bücherst a pel. Dann machte er auf dem Absatz kehrt und rannte, so schnell ihn seine schwachen Beine trugen, in Richtung Ausgang.
„ Diebstahl! Haltet den Dieb!“, ertönte Frau Schmidts Stimme, schrill wie eine Alarmsirene in seinem Rücken. Dann fiel die schwere Bibli o thekstür hinter ihm ins Schloss.
Für einen winzig kleinen Moment dachte er, dass er entkommen w ä re . Dann fiel sein Blick auf die beiden steinernen Löwenstatuen vor dem Eingang, die sich langsam von ihren Sockeln erhoben.
*
Clara rannte , so schnell ihre müden Füße sie tragen konnten. Der Klang ihrer Schritte hallte dumpf von den Mauern der schmalen Gasse wider.
Sie waren hinter ihr her. Sie hatten ihre Spur aufgenommen und nun waren sie hinter ihr her.
Ein überwältigendes Gefühl der Hoffnungslosigkeit stieg in ihr auf. Warum lief sie vor dem Unvermeidlichen davon? Welchen Sinn hatte es? Sie würden sie überall aufspüren. Es gab keinen Ort in dieser got t verdammten Stadt, an dem sie sie nicht finden würden.
Welche Chancen hatte sie schon, hungrig und am Ende ihrer Kräfte? Konnte sie überhaupt allein hier draußen in dieser feindlichen Welt überleben?
Und doch wollte ein Teil von ihr nicht aufgeben. Wollte nicht mehr zurück in die Enge ihres so königlich anmutenden Gefängnisses. Z u rück in die Unmündigkeit und Fremdbestimmtheit. Zurück zu dem unweigerlichen Ärger und den Strafen, die ihr bevorstanden.
Etwas in ihr drängte nach der Freiheit, die diese Welt verhieß.
Hier draußen gab es niemanden, der ihr sagte, was sie zu tun und zu lassen hatte. Selbst wenn sie als Bettlerin in der Gosse enden würde. Es wäre ihre eigene, freie Entscheidung.
Nein, sie durfte nicht aufgeben. Durfte sich nicht einfach wieder ei n fangen lassen. Dieses Mal nicht.
Der Entschluss schien ihr neue Kraft zu geben und so setzte sie trotz brennender Lungen weiter und immer weiter einen Fuß vor den and e ren. Das Echo ihrer Schritte schien ihr wie Hunderte kleiner Füße zu folgen.
*
Mit aufkeimender Panik beobachtete Dean, wie die beiden Löwenst a tuen sich in seine Richtung drehten. Die lebenden Steinwesen gab es überall in der Stadt. Sie fühlten sich vor allem von alten Gebäuden m a gisch angezogen und waren ein von jedem Hausbesitzer gern geduld e ter Mitbewohner. Sie brauchten weder Nahrung noch Auslauf. Ihnen genügte ein einfacher Sockel oder eine Mauernische, in der sie sich b e quem niederlassen konnten, und in die tagsüber genügend Sonne n licht fiel. Hatten sie einmal einen Ort gefunden, an dem es ihnen gefiel, li e ßen sie sich durch nichts in der Welt mehr von dort vertreiben.
Sie saßen tagein, tagaus auf ihrem Platz und beobachteten ihre U m gebung. Sie fingen die ein oder andere Ratte oder Taube, die es wagte, ihrem Standort zu nahe zu kommen, und sorgten auch sonst dafür, dass dem Gebäude, das sie bewachten, nichts Böses geschah. Manche Bauwerke, wie die alte Burg am Stadtrand, beherbergten Hunderte di e ser steinernen Wächter, was es einem Einbrecher nahezu unmöglich machte , unbemerkt einzudringen.
Die Bibliothek verfügte über lediglich zwei solcher Kreaturen. Das war allerdings völlig ausreichend, um einen ungebetenen Gast aufz u halten, wie Dean schlagartig klar wurde.
Die Löwen waren von ihren Sockeln hinab auf die breite Steintreppe gesprungen und kamen mit bedrohlichem Knurren auf ihn zu.
„ Wow, wow, wow, Jungs. Ganz ruhig! Das, äh … Das ist ein Mis s verständnis.“ Jeder andere hätte in diesem Moment aufgegeben und sich in sein Schicksal gefügt, um eine Konfrontation mit diesen gewa l tigen Steinleibern zu vermeiden, doch er hatte an diesem Tag schon zu viel durchgemacht, um sich jetzt geschlagen zu geben. Er hatte kein Interesse daran, nur wegen ein paar dämlicher Bücher auch noch Ärger mit der Polizei zu bekommen. Er verstärkte den Griff um den Stapel in seinen Armen, visierte seine Gegner an und atmete noch einmal tief ein. Dann rannte er mit einem lauten Angriffsschrei direkt auf sie zu.
Die steinernen Wächter waren so überrascht, dass sie verblüfft inn e hielten. Dieser kleine Moment genügte ihm, um vor ihrer Nase einen Haken zu schlagen, sich über den Rücken des links von ihm stehenden Löwen zu schwingen und hinter dem massigen Körper wieder auf der
Weitere Kostenlose Bücher