Poison (German Edition)
Einzelkind zu sein.
»Sie leben jetzt in Berlin, nicht wahr?«, fragt sie mich, und sie scheint gut informiert zu sein ... zu gut, wenn man bedenkt, dass ich es ihr nicht gesagt habe ... das macht mich misstrauisch, und ich glaube, das sieht man mir auch an, denn sie blinzelt kurz, bemerkt vielleicht ihren Fehler, und lächelt mich dann entschuldigend an. »Ich habe Sie suchen lassen, Shahin, weil ich sowieso mit Ihnen reden wollte ... reden musste.«
Ich überlege kurz, nicke dann, schaue ihr in die Augen, abwartend, aber nicht mehr gereizt, sondern fast schon wieder freundlich. »Gut, Carola«, sage ich, lehne mich zurück, sachlich, ruhig, ohne mir die Frage zu beantworten, ob ich jetzt auf jegliche Emotion verzichte und mich kühl zurücklehne, alles verdränge, was nur irgend möglich ist, superarrogant werde, um keinerlei Verletzung bei mir zuzulassen, oder Letzteres in Kauf nehme, mich bewusst in ein emotionales Loch setze, Gefühle und vor allem das Leiden zulasse – und mich ihm und damit den Fakten stelle. Zurzeit drücke ich mich vor dieser Entscheidung, gebe Peters Mutter mit der Hand einen Wink, weiterzusprechen, und halte mich geschlossen.
»Shahin... ich ...«, Peters Mutter sucht nach Worten. »Was damals geschehen ist, tut mir unendlich leid. Ich habe Fehler gemacht, und ich bereue diese Fehler. Gott selbst ist mein Zeuge, dass ich es bereue.«
Ich senke den Blick, zu plötzlich kommen diese Worte auf mich zu. Dann schweige ich, versuche, meine Gefühle wieder unter Kontrolle zu bekommen. Als es mir einige Augenblicke danach gelingt, schaue ich ihr noch einmal in ihre Seele. Sie leidet, sie bereut ... sie spricht die Wahrheit, denn sie findet auch keine Ruhe.
»Frau Stahl ...«, versuche ich ihre Barrieren zu durchdringen, die sie gerade um sich herum aufbaut. Meine Stimme ist ruhig, und das Gefühl, das ich ihr gerade sende, spendet Trost und Kraft, trügerisch zwar, weil ich den Trost selbst nicht empfinde, zurzeit nicht empfinden kann, aber für sie genügt es, sie beruhigt sich.
»Ich habe nach seinem Tod den Nachlassverwalter aufgesucht, um zu erfahren, was denn nun geschehen soll«, berichtet Peters Mutter mit dünner Stimme. »Dort habe ich dann von seinem Testament erfahren, und einen Brief ausgehändigt bekommen, der ausschließlich für mich bestimmt war.«
Ich lausche gespannt. »Sie können mir glauben, dass ich meinen Sohn immer geliebt habe. Ich habe versucht, ihn zu beschützen, aber ich habe nicht verstanden, dass ich meinen Sohn nicht vor seinen Freunden, sondern vor seinen Feinden beschützen muss. Die Menschen, die ihn getötet haben, seid nicht ihr gewesen, sondern böse Menschen. Er hat Sie erwähnt, Shahin, als seinen besten Freund.«
Ich nicke langsam, als ich mich für die Emotion und damit dafür entscheide, mich meinem Leid zu stellen. »Es ist vorbei, Carola«, sind meine einzigen Worte.
»Vergessen Sie bitte, was ich Ihnen angetan habe, Shahin«, bittet Peters Mutter.
»Ich kann es nicht vergessen, Carola«, stelle ich beiläufig fest, »denn täte ich dies, ich würde nichts daraus lernen. Ich kann verzeihen, und dies tue ich, dies habe ich bereits vor langer Zeit getan.« Mit diesen Worten stehe ich auf, sie tut das gleiche, und dann nehme ich sie in den Arm, tröste sie, gebe ihr Schutz und Trost, und warte, bis sie sich wieder beruhigt hat. Dann fasst sie neben sich und zieht einen Umschlag hervor, den sie mir zuschiebt.
»Dieser Brief ist für Sie«, flüstert sie. »Den habe ich in seinen Unterlagen gefunden ... es tut mir leid, dass ich ihn gelesen habe ... aber ich möchte, dass Sie ihn bekommen, denn er ist an Sie adressiert.« Ich nehme den Brief, öffne ihn, beginne zu lesen.
»Lieber Shahin, wenn du diese Zeilen liest, bin ich nicht mehr unter euch, sondern an einem Ort, wo es mir besser geht ... dessen bin ich mir sicher.« – oh mein Freund, ich wünsche es dir! – »Glaub mir, ich kenne dich, und ich weiß sehr genau, was du empfindest ... jetzt, aber auch, was du vorher für mich empfunden hast. Shahin, ich weiß, dass du mich sehr geliebt hast, und wir beide wissen auch, welcher Natur diese Liebe ist. Wie gesagt, ich kenne dich schon viel zu lange und viel zu gut, um dies nicht zu wissen. Dein Leid scheint dir unermesslich, und du bist verwirrt, verstehst vielleicht nicht, wie dies kommen konnte ... und du bist geflohen, vor dir und deinen eigenen Gefühlen. Und dein Leiden ist in Ordnung gewesen, denn es ist die Art der Menschen, Abschied
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