Portrat in Sepia
Körper es aus, und ich kauerte mich in die äußerste
Ecke, zitternd vor Angst, Caramelo zu meinen Füßen. »Was soll
denn bloß aus euch mal werden?« seufzte meine Großmutter
schläfrig. Das war eine rhetorische Frage, denn weder der Hund
noch ich hatten eine Zukunft, in der Familie war man sich nach
allgemeinem Ratschluß einig, daß ich »böse enden würde«. Zu
der Zeit hatte die erste Frau in Chile ihren akademischen Grad
als Ärztin errungen, und andere hatten ihr Studium an der
Universität begonnen. Das brachte Nivea auf den Gedanken, daß
ich das ebenfalls machen könne, und sei es nur, um die Familie
und die Gesellschaft herauszufordern, aber leider hatte ich
offenbar nicht die geringste Fähigkeit zum Studieren. Da
erschien Severo mit der Kamera und legte sie mir auf den
Schoß. Es war eine schöne Kodak, raffiniert bis zur kleinsten
Schraube, elegant, schmiegsam, vollkommen, von Künstlerhand
gemacht. Ich habe sie heute noch in Gebrauch, sie versagt nie.
Kein Mädchen meines Alters hatte solch ein Spielzeug. Ich
nahm sie ehrfürchtig entgegen und betrachtete sie lange ohne die
geringste Vorstellung, wie man sie benutzte. »Mal sehn, ob du
deine finsteren Albträume fotografieren kannst«, sagte Severo
neckend und ahnte nicht, daß dies monatelang mein einziges
Vorhaben sein sollte und daß ich mich in dem Bemühen, diesen
Albtraum aufzuhellen, schließlich in die Welt verlieben würde.
Meine Großmutter ging mit mir zum Atelier von Don Juan
Ribero auf der Plaza de Armas, dem besten Fotografen
Santiagos, einem Mann, äußerlich so hart wie trockenes Brot,
aber in seinem Innern großzügig und gefühlvoll. »Hier bringe
ich Ihnen meine Enkelin als Lehrling«, sagte meine Großmutter
und legte einen Scheck auf den Schreibtisch des Künstlers,
während ich mich mit einer Hand an ihr Kleid klammerte und
mit der anderen meine nagelneue Kamera umfaßte. Don Juan
Ribero, der einen halben Kopf kleiner war als Paulina und halb
soviel wog, rückte die Brille auf der Nase zurecht, las sorgfältig
die Zahl, die auf dem Scheck stand, und gab ihn ihr dann
zurück, wobei er sie von Kopf bis Fuß mit unendlicher
Verachtung musterte.
»Die Summe ist kein Problem… Setzen Sie den Preis fest«,
sagte meine Großmutter unsicher. »Das ist keine Frage des
Preises, sondern des Talents, Senora«, entgegnete er und führte
Paulina del Valle zur Tür.
Inzwischen hatte ich die Gelegenheit genutzt, mich
umzusehen. Seine Arbeit bedeckte die Wände: Hunderte Fotos
von Menschen jeden Alters. Ribero war der beliebteste Fotograf
der Oberklasse, der Fotograf der Gesellschaftsseiten, aber was
mich von den Wänden seines Ateliers ansah, waren weder
hochnäsige Weiber noch hübsche Debütantinnen, sondern
Indios, Grubenarbeiter, Fischer, Waschfrauen, arme Kinder, alte
Leute, viele Frauen wie die, denen meine Großmutter mit den
Anleihen aus dem Damenklub half. Hier war das vielfach
zusammengesetzte und gepeinigte Gesicht Chiles dargestellt.
Diese Gesichter auf den Fotos erschütterten mein Inneres, ich
wollte die Geschichte jedes einzelnen dieser Leute
kennenlernen, ich spürte einen Druck in der Brust wie von
einem Faustschlag und hätte am liebsten geweint, aber ich
schluckte meine Ergriffenheit hinunter und folgte meiner
Großmutter mit hocherhobenem Kopf. In der Kutsche versuchte
sie mich zu trösten, ich solle mich nicht grämen, sagte sie, wir
würden schon jemand anderen finden, der mir den Umgang mit
der Kamera beibringen würde, Fotografen gebe es wie Sand am
Meer; was hatte sich diese elende Mißgeburt eigentlich gedacht,
in diesem Ton mit ihr zu sprechen, mit niemand Geringerem als
Paulina del Valle! Und so redete und redete sie, aber ich hörte
ihr nicht mehr zu, weil ich beschlossen hatte, daß nur Don Juan
Ribero mein Lehrer sein sollte. Am Tag darauf ging ich aus dem
Haus, ehe meine Großmutter aufgestanden war, ließ mich vom
Kutscher zum Atelier fahren und baute mich dort auf der Straße
auf, bereit, ewig zu warten. Don Juan Ribero kam gegen elf, sah
mich vor seiner Tür und forderte mich auf, nach Hause zu
gehen. Ich war damals sehr schüchtern - bin es heute noch - und
sehr stolz, ich war es nicht gewohnt, zu bitten, seit meiner
Geburt war ich gehätschelt worden wie eine Königin, aber mein
Entschluß muß sehr fest gewesen sein. Ich rührte mich nicht
weg von der Tür. Ein paar Stunden später kam der Fotograf
heraus, warf mir einen wütenden Blick zu und ging
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