Portrat in Sepia
und zur Fortbewegung diente, als plötzlich ein kleines
Mädchen von vier oder fünf Jahren aus dem Karren kletterte,
völlig nackt. Da kam mir der Gedanke, ob ich sie nicht bitten
könnte, sich auszuziehen. Sie taten es ohne Hintergedanken und
posierten für mich genauso aufmerksam, wie sie es angekleidet
getan hatten. Es ist eines meiner besten Fotos, eines der
wenigen, für die ich Preise bekommen habe. Bald war es
offensichtlich, daß mich Menschen mehr anzogen als Dinge
oder Landschaften. Wenn man ein Porträt von jemandem macht,
stellt man eine Beziehung zu dem Modell her, die, so kurz sie
auch sein mag, immer verbindend wirkt. Die Fotoplatte enthüllt
nicht nur das Bild, sondern auch die Gefühle, die zwischen dem
Aufnehmenden und dem Aufgenommenen fließen. Don Juan
Ribero gefielen meine Porträts, die sich sehr von den seinen
unterschieden. »Sie wissen sich einzufühlen in Ihre Modelle,
Aurora«, sagte er, »Sie versuchen nicht, sie zu beherrschen,
sondern sie zu verstehen, dadurch gelingt es Ihnen, ihre Seelen
bloßzulegen.« Er trieb mich an, die sicheren Wände des Ateliers
zu verlassen und mit der Kamera auf die Straße zu gehen,
hierhin und dorthin, mit weit offenen Augen zu schauen, meine
Schüchternheit zu überwinden, die Angst zu besiegen, auf die
Menschen zuzugehen. Ich merkte, daß die mich im allgemeinen
gut aufnahmen und ganz ernsthaft Modell standen, obwohl ich
ja noch eine Rotznase war; die Kamera flößte Achtung und
Vertrauen ein, die Leute öffneten sich, sie lieferten sich aus.
Mein noch kindliches Alter setzte mir Grenzen, erst mehrere
Jahre später würde ich durch das Land reisen können,
Streikende aufnehmen, Bergwerke, Krankenhäuser, die Hütten
der Armen, die elenden kleinen Dorfschulen, die Pensionen zu
vier Pesos, die staubigen Plätze, wo die Rentner vor sich
hindämmerten, die Äcker und die Fischerdörfer. »Das Licht ist
die Sprache der Fotografie, die Seele der Welt. Es gibt kein
Licht ohne Schatten, wie es kein Glück ohne Schmerz gibt«,
sagte Don Juan Ribero vor siebzehn Jahren zu mir an diesem
ersten Tag in seinem Atelier an der Plaza de Armas. Ich habe es
nicht vergessen. Aber ich darf nicht vorgreifen. Ich habe mir
vorgenommen, diese Geschichte Schritt für Schritt, Wort für
Wort zu erzählen, wie es sein muß.
Während ich mich begeistert mit der Fotografie beschäftigte
und ziemlich ratlos mit den Veränderungen meines Körpers, der
ungewöhnliche Formen annahm, verlor meine Großmutter
Paulina nicht die Zeit mit Nabelschau, sondern erwog neue
Geschäfte in ihrem Phöniziergehirn. Das half ihr, sich vom Tod
ihres Sohnes Matías zu erholen und neue Ansprüche zu stellen
in einem Alter, in dem andere sich schon mit einem Fuß im
Grab wähnen. Sie verjüngte sich zusehends, ihr Blick gewann
neue Leuchtkraft und ihr Schritt Behendigkeit, bald legte sie die
Trauerkleidung ab und schickte ihren Mann nach Europa auf
eine sehr geheime Mission. Der getreue Williams war sieben
Monate fort und kam mit Geschenken für sie und für mich
beladen zurück sowie mit gutem Tabak für sich selbst, das
einzige Laster, das wir an ihm kannten. In seinem Gepäck
reisten auch eingeschmuggelt Tausende trockener Stäbchen von
etwa fünfzehn Zentimeter Länge mit, die scheinbar für nichts zu
gebrauchen waren, aber wie sich herausstellte, waren es
Rebstöcke aus den Weinbergen von Bordeaux, die meine
Großmutter in chilenische Erde einpflanzen wollte, um einen
anständigen Wein zu erzielen. »Wir werden den französischen
Weinen Konkurrenz machen«, hatte sie ihrem Mann vor seiner
Reise gesagt. Zwecklos, daß Frederick Williams ihr
entgegenhielt, die Franzosen seien uns um Jahrhunderte voraus,
die Bedingungen dort seien paradiesisch, während dagegen
Chile ein Land der Katastrophen sei, sphärischer wie politischer
Art, ein Projekt von solchem Umfang werde jahrelange Arbeit
verlange n.
»Weder Sie noch ich sind in einem Alter, in dem wir auf die
Ergebnisse dieses Experiments warten können«, hielt er ihr mit
einem Seufzer vor. »Wenn’s danach ginge, kämen wir nirgends
hin, Frederick. Wissen Sie, wie viele Generationen nötig waren,
um eine Kathedrale zu bauen?«
»Paulina, uns interessieren hier nicht die Kathedralen. Wir
können jeden Tag tot umfallen.«
»Dies wäre nicht das Jahrhundert der Wissenschaft und der
Technik, wenn jeder Erfinder an seine eigene Sterblichkeit
dächte, meinen Sie nicht? Ich möchte eine Dynastie gründen,
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