Portrat in Sepia
ersten verfügbaren Transport nach Valparaiso
schickte. Er ließ auch eine Sondergenehmigung für seine Nichte
ausstellen, mit der sie den militärischen Bezirk des Hafens
betreten konnte, und wies einen Leutnant an, ihr zu helfen. Als
Severo auf einer Trage an Land gebracht wurde, erkannte sie ihn
nicht wieder, er hatte zwanzig Kilo abgenommen, war
schmutzig, sah aus wie ein gelber, struppiger Leichnam, hatte
einen mehrere Wochen alten Bart und die entsetzten, irren
Augen eines Wahnsinnigen. Nivea überwand ihren Schreck mit
der ihr eigenen amazonenhaften Willenskraft, die sie in ihrem
Leben gut gebrauchen konnte, und begrüßte ihn mit einem
fröhlichen »Hallo, Vetter, freut mich, dich zu sehen«, worauf
Severo nicht antworten konnte. Als er sie erblickte, war seine
Erleichterung so groß, daß er das Gesicht mit den Händen
bedeckte, damit sie ihn nicht weinen sah. Der Leutnant hatte den
Weitertransport vorbereitet, und gemäß den Anordnungen, die er
erhalten hatte, fuhr er den Verwundeten und Nivea geradenwegs
zum Palais des Ministers, wo dessen Frau ein Zimmer für ihn
vorbereitet hatte. »Mein Mann sagt, du bleibst hier, bis du laufen
kannst, Junge«, verkündete sie ihm. Der Arzt der Familie
Vergara wandte alle Mittel der Wissenschaft an, um ihn zu
heilen, aber als einen Monat später die Wunde noch immer nicht
vernarben wollte und Severo sich weiter mit Fieberphantasien
herumschlug, begriff Nivea, daß seine Seele krank war von den
Greueln des Krieges und daß das einzige Heilmittel gegen so
viele Gewissensqualen die Liebe war, und also entschloß sie
sich, zu extremen Maßnahmen zu greifen. »Ich werde meine
Eltern um die Erlaubnis bitten, dich zu heiraten«, teilte sie
Severo mit. »Ich sterbe, Nivea«, seufzte er.
»Du hast aber auch immer eine Ausrede, Severo! Agonie war
noch nie ein Hinderungsgrund beim Heiraten.«
»Willst du Witwe werden, ohne je Ehefrau gewesen zu sein?
Ich will nicht, daß dir das gleiche zustößt, was mir mit Lynn
passierte.«
»Ich werde nicht Witwe werden, weil du nicht sterben wirst.
Würdest du mich wohl demütig bitten, dich zu heiraten, Vetter?
Du könntest zum Beispiel sagen, ich sei die Frau deines Lebens,
dein Engel, deine Muse oder etwas in dem Stil. Laß dir was
einfallen, Mensch! Sag mir, daß du nicht ohne mich leben
kannst, wenigstens das stimmt, oder? Ich muß schon sagen, es
gefällt mir gar nicht, der einzige Romantiker in unserer
Beziehung zu sein.«
»Du bist verrückt, Nivea. Ich bin nicht einmal ein
vollständiger Mann, ich bin ein elender Invalide.«
»Fehlt dir mehr als nur ein Stück Bein?« fragte sie ernsthaft
beunruhigt. »Findest du das wenig?«
»Wenn alles übrige an seinem Platz ist, dann, scheint mir, hast
du nur wenig verloren, Severo«, lachte sie. »Dann heirate mich
doch bitte«, murmelte er tief erleichtert und mit einem
Schluchzer in der Kehle, aber zu schwach, sie zu umarmen.
»Wein nicht, Vetter, küß mich, dazu brauchst du dein Bein
nicht«, sagte sie und beugte sich über das Bett mit derselben
Bewegung, die er so viele Male in seinen Delirien gesehen hatte.
Drei Tage später heirateten sie in einer kurzen Zeremonie in
einem der schönen Salons im Haus des Ministers in Gegenwart
der beiden Familien. Den Umständen entsprechend war es eine
Heirat im engeren Kreise, aber nur an nächsten Verwandten
kamen schon vierundneunzig Personen zusammen. Severo
erschien im Rollstuhl, bleich und mager, das Haar im ByronStil, die Wangen rasiert, festlich gekleidet in einem Hemd mit
steifem Kragen, goldenen Knöpfen und einer Seidenkrawatte.
Für ein Brautkleid oder eine angemessene Aussteuer für Nivea
hatte die Zeit nicht gereicht, aber ihre Schwestern und Cousinen
hatten ihr zwei Koffer mit Hauswäsche vollgepackt, die sie
jahrelang für ihre eigene Aussteuer bestickt hatten. Sie trug ein
Kleid aus weißem Satin und ein Diadem mit Perlen und
Diamanten, beides von einer Frau ihres Onkels geliehen. Auf
dem Hochzeitsfoto steht sie strahlend neben dem Stuhl ihres
Mannes. An diesem Abend gab es ein Familienessen, an dem
Severo nicht teilnahm, weil die Aufregungen des Tages ihn
erschöpft hatten. Als die Gäste sich verabschiedet hatten, wurde
Nivea von ihrer Tante zu dem Zimmer geleitet, das sie für sie
vorbereitet hatte. »Es tut mir schrecklich leid, daß deine
Hochzeitsnacht so… so…«, stotterte die gute Dame errötend.
»Machen Sie sich keine Sorgen, Tante, ich werde mich damit
trösten, daß ich den Rosenkranz
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