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Prickel

Prickel

Titel: Prickel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Juretzka
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möglicherweise noch mal hinterfragen, ob da nicht abends womöglich etwas mit einem durchgegangen und man eventuell übers Ziel hinausgeschossen ist, oder was auch immer .
    Nicht so Charly. >Wir ziehen das jetzt durch und basta!<
    Nun denn, sagte ich mir, du hast es so gewollt, Kristof. Wohl war mir dennoch nicht.
    Ich zwängte meine biergeschwollene Runkel in eine Halbschale, Charly sprang auf den Kickstarter, ich schwang ein Bein über den handtellergroßen Soziussitz und ab ging die schüttelnde Fahrt. Das Ding, auf dem wir hockten, trug den Namen >Rattler< in feingeschwungenen Buchstaben auf dem Tank, zusammen mit einer Airspray-Klapperschlange, die dem Betrachter eine übertrieben große, leicht gebogene und steil aufgerichtete Rassel entgegenhielt. Darunter rappelte ein Knucklehead-Motor markerschütternd in einem Fahrwerk vor sich hin, das gänzlich ohne Hinterradfederung und weitestgehend ohne Bremsen auskommen mußte. Eine Harley für die Fundamentalisten der Marke. Etwas nur für ganze Kerle. Vor allem, wenn mich einer fragen sollte, hintendrauf.
    Mein Vordermann fuhr, wie er es immer tat, das heißt wie eine von Todessehnsucht geplagte Wildsau, was mir wieder mal Gelegenheit gab, mich, während wir funkensprühend um die Kurven schraddelten oder beim Überholen die Existenz jeglichen Gegenverkehrs negierten, in Betrachtungen zu ergehen über das Wesen, den Sinn und den unerklärlichen Reiz der Angst, der so stark ist, daß manche Menschen nicht genug davon kriegen können.
    Und auch darüber, daß ich - ganz, ganz sicherlich - nicht zu denen gehöre.
    Wie durch ein Wunder an einem Stück in Ratingen angekommen, machten wir einen großen Bogen um die Anstalt und näherten uns ihr dann von der Rückseite her, über staubige, holprige Feldwege und schließlich das letzte Stück über nackten Acker. Alles mit einer Starrahmen-Harley. Als wir endlich hielten, hatte sich mein Rückgrat soweit zusammengestaucht, daß mir der Hosengürtel unter den Achseln hing.
    Der Motor erstarb und man hörte Insekten durch die dicke, klebrige, stehende Luft brummen. Die Sonne hing wie eine konturlose, mehr Hitze als Licht verströmende Scheibe an einem Himmel in der Farbe von Eiter. Es war ein Tag wie ein schlechter Traum, ein Tag wie ein böses Omen.
    »Da wären wir also.« Charly ließ die Maschine auf den Seitenständer kippen. »Zug endet hier.« Wir stiegen ab und sahen uns um. Gut und gerne fünfzig kleine, vergitterte Fenster starrten aus der schmutziggrauen Fassade auf uns herunter. »Da drin verpassen sie's also den endgültig Durchgeknallten? Na, besser denen als mir.«
    Wir hatten ein ganzes Stück vom Gebäude entfernt gestoppt und trotzdem kam ich mir beobachtet, erkannt, ertappt vor. Ich meinte, Dr. Blandettes starren Blick auf mir zu spüren, der meine Gedanken zu entziffern und meine Pläne zu durchschauen versuchte. In Wirklichkeit war die Wahrscheinlichkeit, beobachtet zu werden gering, da man ja drinnen extra auf einen Stuhl kienern mußte, um überhaupt rausschauen zu können.
    »Jetzt sag mir eins, Kristof mein Junge, bevor wir etwas anfangen, das uns beide Kopf und Kragen kosten kann, sieh mich an, sieh mir in die Augen, und dann sag mir ganz ehrlich, hörst du, ohne zu flunkern, denn wenn du mich anlügst, werde ich dafür sorgen, daß wir in eine Zelle kommen, wenn man uns packt, und dann Gnade dir Gott, also sieh mich an und sprich: Du bist dir ganz sicher, hundert Prozent, ohne den leisesten Hauch eines Zweifels, welches unter diesen vielen, für mich als architektonischen Laien allesamt gleich aussehenden Fenstern das richtige ist? Hm? Ganz sicher? Ich möchte nicht in der Zeitung landen als der Mann, der einem sechsfachen kannibalistischen Kinderkiller eine Wiederaufnahme seiner Karriere ermöglicht hat.«
    »Erste Etage das letzte Fenster ganz rechts. Hundert Prozent.«
    Wir sahen uns weiter um. Reihe um Reihe kniehoher, gelbblühender Pflanzen erstreckte sich in alle Richtungen. Charly trat eine mit dem Stiefel. »Kartoffeln«, sagte er, »Mist.« Ich sah ihn fragend an. »Scheißtiefe Furchen«, meinte er und zeigte mit dem Finger. »Na, wenigstens ist es trocken. Die Karre meines Bruders wird es schon packen.«
    »Deines Bruders?« fragte ich zweifelnd. Kain und Abel kommen mir immer in den Sinn, wenn ich an Charly und Heiko Zimmermann denke. Schalke und Dortmund. Hutu und Tutsi.
    Er kaute auf seiner Unterlippe, nahm mit den Augen Maß, murmelte leise vor sich hin.
    »Du meinst, dein Bruder

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