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Prickel

Prickel

Titel: Prickel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Juretzka
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passierten eine Tankstelle. Es war nicht mehr weit. Ich schluckte trocken.
    Der Motor brummelte nur knapp über Leerlaufdrehzahl, während wir mit abgeschalteten Scheinwerfern über den Feldweg schlichen. Die Rückseite des Christopherus-Asylums wuchs vor uns aus dem Acker als eine schwarze Wand mit einem regelmäßigen Muster kleiner, schwach leuchtender Quadrate. Wahrscheinlich hatten sie in den Zellen eine Notbeleuchtung brennen. Damit die Insassen sich nicht im Dunkeln verliefen. Oder unsichtbar wurden für die Videoüberwachung. Denn die gab es, soviel war mir seit meinem letzten Besuch klar. Noch im Rausgezerrtwerden war mir das unscheinbare kleine Plexiglasfenster über der Türe aufgefallen. Ich griff mir meine Reisetasche, holte die Strümpfe und den Overall heraus und begann, hineinzuschlüpfen.
    Charly ließ den Wagen gemächlich über die Kartoffelfurchen klettern. Im Westen zuckten Blitze über den Nachthimmel. Wir waren jetzt bis auf zehn Meter an die Rückfront der Anstalt heran. Es war stockdunkel. Trotzdem fragte ich mich, ob wir nicht schon längst beobachtet wurden. Jeden Augenblick erwartete ich das Aufflackern einer Panikbeleuchtung, das Aufheulen einer Sirene. Wir stoppten. Charly schaltete den Motor ab. Ich wünschte, jemand käme und brüllte, dies sei Privatbesitz und wir sollten gefälligst abhauen, oder .
    »Also«, sagte Charly und ich gab ihm seinen Strumpf.
    »Oh nein«, murrte er und schenkte mir eine genervten Seitenblick. Im ersten Moment verstand ich nicht recht, dann sah ich ihn an und wußte, was er meinte: In meiner Hast hatte ich Strumpfhosen gekauft. Vom rein technischen Aspekt her halb so schlimm, doch optisch resultierte mein Mißgriff in einer gewissen, nicht von der Hand zu weisenden Schlappohrigkeit.
    »Dann los, Caesar«, sagte er und wir stiegen aus. Schwaches Grollen rollte heran, und Blitze zuckten kreuz und quer über den Horizont. Die Luft roch elektrisch. Irgendwo hoch über uns drang ein Jaulen wie von einem eingesperrten Hund aus einem der kleinen Fenster.
    Mein Herz schlug wie wild. Hätte ich gerade noch am liebsten kehrtgemacht, so war ich seit dem Aussteigen gepackt, ja geschüttelt von dem Drang, es hinter mich zu bringen, und zwar pronto und scheiß auf die Konsequenzen.
    Eine Aktion wie diese durchzuziehen erfordert einen eisernen Griff ins Gehirn. Es darf sich mit nichts als der vorgegebenen Aufgabe beschäftigen. Es darf nicht nach links und nicht nach rechts schauen, sozusagen, sondern nur sturheil nach vorne. Der Zustand, in den man dabei gerät, ähnelt nichts so sehr wie einer kontrollierten Panik: Die Augen sind schreckgeweitet, der Atem geht stoßweise, der Puls rast. Und doch sitzt jeder Handgriff, sind alle Bewegungen flink, leise, beherrscht. Das einzige, was unmenschlich schwer fällt, unten zu halten, ist ein leicht hysterisches Gibbeln, wenn der Komplize gerade zum x-ten Mal seine Hasenohren nach hinten wirft.
    Wir stellten die Leiter an und immer noch schrillte kein Alarm. Ich packte das Seilende mit dem Karabinerhaken und begann den Aufstieg. Charly knotete das andere Ende derweil an den Abschlepphaken des Wagens. Mit jedem Schritt höher wuchs eine zweite, unausgesprochene Furcht in mir. Was, wenn sie Roselius in eine andere Zelle verlegt hatten? Im Vorbeiklettern linste ich in das Fenster unter seinem, im Erdgeschoß. Eine Gestalt lag im trüben Licht der Notfunzel mit dem Rücken zu mir im Bett und pennte. Es hätte jeder sein können.
    Charly bringt mich um, dachte ich, wenn wir da gleich jemandem Fremdes ein Loch zur Freiheit brechen. Oder, schlimmer noch, er haut ab und läßt mich hier.
    Doch es war Bernd Roselius, auf den ich eine Etage höher herunterblickte, er war es, unverkennbar. Regungslos vor sich hinstarrend hockte er auf seiner Koje. Allein seit gestern schien er zehn Kilo verloren zu haben. Er sah nicht auf, als ich den Haken so leise es ging hinter den drei senkrechten Gitterstäben herführte und dann vorne ins Seil einklinkte. Er wirkte völlig teilnahmslos. Ich konnte nur hoffen, daß wir nicht zu spät kamen.
    Hastig kraxelte ich die Leiter herunter, zog sie ein Stück beiseite. Dies war der Punkt ohne Wiederkehr. Alles, was von jetzt ab passierte, konnte uns zehn Jahre kosten.
    »Du sagst, wenn es stramm ist«, flüsterte Charly und öffnete die Fahrertüre. Ich nickte beklommen. Unvermittelt drehte er sich noch mal um und kniff mir mit Daumen und Zeigefinger in der Wange. »Es wird alles gut, Caesar«, raunte er.

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