Psychopathen
und Gorillas, sie alle treten miteinander in Konkurrenz, indem sie bei Streitigkeiten zwischen Untergebenen intervenieren. Gegen alle Erwartungen werden bei diesem Eingreifen nicht automatisch Familienmitglieder und Freunde begünstigt. Vielmehr geht es darum, so sagt de Waal, »wie sie am besten Ruhe und Frieden wiederherstellen«. 60 Statt die Konflikte dezentral zu lösen, sieht es ganz so aus, »als suche die Gruppe den erfolgreichsten Schlichter in ihrer Mitte und stelle sich dann mit ihrem ganzen Gewicht hinter ihn, um ihn bei der Wahrung von Frieden und Ordnung zu unterstützen«, so de Waal. 61
Skrupellosigkeit. Furchtlosigkeit. Charme. Überredungskunst. Eine tödliche Kombination – doch zuweilen auch eine lebensrettende. Sind also die Killer von heute die Träger einer heimtückischen evolutionären »Huckepack«-Variante jener Tapferkeit, die die Friedensstifter von gestern auszeichnete? Das wäre durchaus möglich – obwohl Gewalt natürlich nichts Neues ist.
Die ersten Psychopathen
An einem einsamen Ort in der Nähe des Dorfes St. Césaire im Südwesten Frankreichs machte Christoph Zollikofer von der Universität Zürich zusammen mit einer Gruppe französischer und italienischer Forscher 1979 eine interessante Entdeckung. Sie fanden die Überreste eines rund 36 000 Jahre alten Skeletts, das aus der »Übergangsperiode« stammte, in der die Europäer mit ihrem vorspringenden Kinn und dem Überaugenwulst durch den Zustrom von anatomisch moderneren Menschen aus Afrika verdrängt wurden. Seit der Eiszeit hatte es in einem anthropologischen Koma gelegen. 62 Die Überreste waren, wie bestätigt wurde, die eines Neandertalers. Doch der Schädel war irgendwie seltsam. Er wies rechts oben auf einem Knochenabschnitt eine rund vier Zentimeter lange Verletzung auf. Es ist natürlich nichts Ungewöhnliches, dass die Objekte solcher Ausgrabungen nicht ganz perfekt sind. Im Gegenteil: Das ist ganz normal. Aber hier war irgendetwas ein kleines bisschen anders. Das sah nicht nach geophysikalischen Widrigkeiten oder einem Unglücksfall aus. Die Sache roch nach Vorsatz. Die Verletzung war gewaltsam zugefügt. Genauer gesagt durch eine schlagende oder hackende Bewegung mit einem scharfen Gegenstand.
Zollikofer zählte zwei und zwei zusammen – die Lage der Verletzung, die Form der Wunde, die Tatsache, dass der Rest des Schädels weder gebrochen noch deformiert zu sein schien – und gelangte zu einer äußerst unangenehmen Schlussfolgerung. Aggression von Menschen gegenüber Menschen gab es schon weitaus früher, als man bislang angenommen hatte. Anderen Leid zuzufügen war, wie es schien, etwas ganz Natürliches.
Es ist ein faszinierender Gedanke, dass umherziehende Neandertal-Psychopathen vor rund 40 000 Jahren das vorgeschichtliche Europa durchstreiften. Aber kein ganz überraschender. Wir haben uns zwar gerade mit der Möglichkeit einer evolutionären »Huckepack«-Variante befasst, aber der traditionelle Ansatz bei der Erforschung der Evolution von Psychopathiekonzentriert sich, wie wir in Kapitel 1 gesehen haben, vor allem auf die raubtierhaften und aggressiven Aspekte der Störung. Auf einem der Standardfragebögen zur Beurteilung der Psychopathie, der Levenson Self-Report Psychopathy Scale, lautet ein typisches Test-Item:
»Erfolg basiert auf dem Überleben des Bestangepassten. Ich mache mir keine Gedanken um die Verlierer.« Geben Sie auf einer Skala von 1 bis 4 an – wobei 1 »stimme voll und ganz zu« und 4 »stimme überhaupt nicht zu« bedeutet –, wie Sie diese Aussage beurteilen.
Die meisten Psychopathen neigen dazu, dieser Aussage voll und ganz zuzustimmen – was im Übrigen nicht immer schlecht sein muss. »Zwei kleine Mäuse fallen in einen Topf voll Sahne«, sagt Leonardo DiCaprio in dem Film ›Catch Me If You Can‹. Er spielt Frank Abagnale, einen der berühmtesten Betrüger der Welt. »Die erste Maus gibt bald auf und ertrinkt. Die zweite Maus gibt nicht auf – die strampelt so lange, bis sie die Sahne schließlich in Butter verwandelt hat, und krabbelt heraus ... Ich bin die zweite Maus.« [17] Am anderen Ende des Spektrums, etwa in religiösen, spirituellen und philosophischen Texten, finden wir eine ganz andere Art von Appellen. Wir hören von Mäßigung, Toleranz und davon, dass die Sanftmütigen die Erde besitzen werden.
Zu welcher Gruppe würden Sie sich nun rechnen? Zu den Psychopathen? Den Heiligen? Oder sehen Sie sich irgendwo dazwischen? Wahrscheinlich läuft es auf Letzteres
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