Purgatorio
Verträgen für die Übersetzung ihrer Bücher. In diesem Taumel brachte sie sich mit Blausäure um. Sie hinterließ weder einen Abschiedsbrief noch ein Testament. Als sie sich zum Sterben hinlegte, schminkte sie sich wie für ein Fest und zog ein weißes Organzanachthemd an. Auf einem Tischchen neben dem Bett lagen zwei weitere Blausäuretabletten. Ihre welke Schönheit war unversehrt. Niemand erhob Anspruch auf die Leiche. Vom Ehemann wusste seit seinem Untergang im Weltraum niemand etwas, und kein Verwandter gab ein Lebenszeichen von sich. Dr.Dupuy beauftragte einen seiner Assistenten, sie diskret und bescheiden zu beerdigen. Danach rief er einen befreundeten Bischof an und bat ihn, die Kirche möge sich um ihr Vermögen kümmern.
Über die Verschwundenen dieser Jahre hört man weiterhin Geschichten, die einem den Herzschlag einfrieren lassen. Einige Zeitschriften, die man in den Antiquariaten von Buenos Aires noch finden kann, erzählen in der damaligen halb scheinheiligen, halb verschwörerischen Sprache vom Abhandenkommen von Menschen, die mit ihren Segelschiffen auf dem Río de la Plata unterwegs waren und bei ihrem Abgang das Boot den Winden überließen. Viele von ihnen waren Großgrundbesitzer wie Nora Balmacedas verschollener Mann. Bevor sie sich auf den letzten Ausflug ihres Lebens machten, traten sie die Ländereien und Industriebetriebe ihrer Familie führenden Militärs ab, die ihre Freunde und Gönner gewesen waren. In den ordentlichen Gerichten häuften sich die Beschwerden von geschädigten Geschwistern und Ehefrauen, aber keine hatte Erfolg, da die Leichen der Abwesenden niemals auftauchten. Wo nichts zu sehen ist, hat es auch niemanden gegeben, erklärten die Gerichtssprecher. Die Doppelverneinungen, seit damals in der Umgangssprache an der Tagesordnung, bemächtigten sich auch des Journalistenjargons. Da ist nichts, da gibt es niemanden, das waren Ausdrücke, die in Rundfunk und Fernsehen immer wieder zu hören waren. Man hört und liest sie auch heute noch.
Andere, weniger langlebige Symbole jener Zeit sind verschwunden. Die Raumschiffe, die die Himmelsgestade erleuchteten, sind nie wiedergekehrt. Von der Kirche Unserer Lieben Frau von Esteco gibt es nicht einmal mehr Ruinen. In der Umgebung liegen die Skelette der Eisenbahn. Es gibt weder Ortschaften noch Lebensmittelgeschäfte auf dem alten Schotterweg, der das offene Gelände mit dem fernen Buenos Aires verband. Keine Lastwagen fahren mehr vorbei, die kleinen Dörfer verschwinden, und in den menschenlosen Zimmern treiben nur Gespenster und Mäuse Unfug. Das elende Nest, das in den sechziger Jahren den Handel der ganzen Region monopolisierte, ist von einem Stausee zugedeckt worden. Ein paar Greise weigerten sich zu gehen und warteten zuoberst auf dem Kirchturm geduldig auf das Ansteigen des Wassers. Eine Frau schaffte es, die Spitze des Kreuzes zu erklimmen, und harrte dort in der Hocke aus. Die Fischer, die zum Stausee kommen, sehen noch das verrostete Kreuz aus der stillen Oberfläche ragen, und das ist alles.
Während ich diese Seite schreibe, lese ich, dass über Nacht ein patagonischer See verschwunden ist. Er lag neben dem Fjord Témpano, auf fünfzig Grad südlicher Breite, und war drei Kilometer breit und fünf Meter tief. Die Waldhüter hatten ihn letztmals vor zwei Wochen gesehen. Als sie zurückkamen, fanden sie nur ein ausgetrocknetes Bett vor, geriefelt von bis zu fünfundzwanzig Meter tiefen Schründen. Einige Leute sind der Ansicht, der See sei verdampft, das ist der erste See, der wegfliegt – sagen sie –, und vergessen dabei, dass zwischen 1977 und 1978 die Seen in Schwärmen davonflogen. So verloren sich der See del Jabón, der Pulgarcito-See und der Sin-Regreso-See, neben anderen, bescheideneren Gewässern. Die damaligen Militärpatrouillen sahen, wie sie, verschoben durch die Bewegungen der geologischen Platten, ballongleich aufstiegen und dann in die Vulkane der Anden stürzten. Man strich sie von den Landkarten, und auf diesem Gebiet wurden die bläulichen Wellen eingezeichnet, Symbol für den unzugänglichen Schnee. Ausländische Kartographen ersuchten um Präzisierungen für die Leerräume, und die argentinischen Behörden antworteten unverändert mit einer Feststellung von Bischof Berkeley: »Was man nicht sieht, das gibt es nicht.«
Die erste Begegnung nach dreißig Jahren verläuft so, wie Emilia es sich immer wieder vorgestellt hat. Simón wiederholt genau die Worte, von denen sie geträumt hat,
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