Pusteblume
und hörte sich sagen: »Kann ich einen Moment mit Ihnen sprechen?«
Mit einer anmutigen Handbewegung deutete Joe auf einen Stuhl. Sein Gesicht drückte Neugier aus. Fast schon Mißtrauen. Sie setzte sich benommen und stützte die Ellbogen auf den Tisch. Dann wurde ihr klar, daß der Augenblick gekommen war. Oh, Jesus, Maria!
»Vielleicht erinnern Sie sich«, fing sie stockend an, »vor einiger Zeit, ehm…«
Er sah unfreundlich aus. Kein hilfreiches Lächeln oder ermunterndes Nicken, keine Wärme in seinen Augen.
Sie fing noch einmal von vorn an. »Vor ein paar Wochen«, sagte sie, »kamen Sie an meinen Schreibtisch und sagten etwas. Und vielleicht haben Sie gedacht, daß ich Sie –« Sie brach ab. Sie fing an, sich über sich selbst zu ärgern. »Ich habe Sie der sexuellen Belästigung bezichtigt«, erklärte sie ohne weitere Umschweife.
»Weniger eine Bezichtigung als eine Andeutung.« Joe senkte den Blick. »Aber ich erinnere mich, ja.«
Er lachte nicht, machte keinen Witz, und ihr wurde klar, daß sie darauf gehofft hatte. Seine Miene war finster und ernst, und plötzlich sah sie das Ganze aus seiner Sicht. Es hätte ihn seinen Job kosten können.
»Ich möchte mich entschuldigen«, sagte sie und war zum ersten Mal wirklich beschämt über ihr Verhalten. »Es tut mir leid. Es stimmte nicht, und ich hätte das nicht sagen dürfen.«
Sein Gesicht war ausdruckslos. »Ich akzeptiere Ihre Entschuldigung. Und«, fügte er hinzu, die braunen Augen kühl auf sie gerichtet, »ich muß mich bei Ihnen entschuldigen. Ich hätte Sie nicht bedrängen sollen.«
Das war keinesfalls, was sie hören wollte! »Nein, nein!« rief sie. Als sie seine fragende Miene sah, hätte sie beinahe die Nerven verloren. Ihre Stimme war nur ein Piepsen, als sie sagte: »Wenn das Angebot auf einen Drink noch steht, dann würde ich es gerne annehmen!«
Sie wand sich vor Unbehagen.
Ich hasse dich, Fintan O’Grady.
Joe sah sie an und musterte ihr rot angelaufenes Gesicht. Sie erwiderte den Blick und versuchte zu erraten, was in ihm vorging. Sie verabscheute ihre Verletzbarkeit. Sie konnte es nicht ertragen, jemandem ausgeliefert zu sein. Schon gar nicht einem Mann. Und dann noch einem Mann, auf den sie scharf war.
Endlich brach er das Schweigen und sagte: »Ich überlege es mir.«
Sie dachte, sie mußte jemanden umbringen. Sie nickte, hochrot im Gesicht zwang sie sich zu einem Lächeln und stand mit zitternden Knien auf. Blind vor Zorn und Angst stolperte sie zu ihrem Platz zurück.
Sie mußte raus. Sie ging eine Runde um den Hanover Square und dann die Oxford Street entlang. Und immer wieder sagte sie zu sich mit affektierter Stimme: »Ich überlege es mir. Ich überlege es mir.«
Ihr Zorn breitete sich aus wie ein Virus, und sie schwor sich, daß Fintan O’Grady dafür büßen würde.
Sie ging ins Büro zurück, nahm ihre Steptanzsachen, die sie seit dem Ausbruch von Fintans Krankheit nicht gebraucht hatte, und machte sich auf den Weg ins FitneßStudio. Normalerweise ging sie nicht in den Fitneßraum, aber sie hatte das Gefühl, einen Sandsack durchprügeln zu müssen, da es gesetzlich nicht gestattet war, Joe Roth zu verprügeln. Oder Fintan O’Grady.
Der Trainer versuchte ihr zu erklären, daß sie nicht die richtigen Schuhe trug, aber irgendwie setzte ihre Wut sich durch. Und als sie anfing, auf den Sandsack einzuschlagen, vollführten ihre Arme einen einzigen Trommelwirbel. Das Gesicht knallrot vor Wut, in knappen Shorts und lackledernen Tanzschuhen mit einer Schleife auf dem Rist, reagierte sie ihren Zorn ab: auf Joe und Fintan und Tara und weiß der Himmel, wen noch alles.
Andere Besucher, hauptsächlich Männer, blieben stehen. So eine zierliche Frau und so viel Kraft! »Sie könnte für England antreten«, sagte ein riesiger, muskelbepackter Kerl bewundernd. Katherine hielt einen Moment inne. Normalerweise würde ein Blick der Stufe drei (Verachtung vermischt mit Feindseligkeit) oder Stufe vier (größere Verachtung mit heftigerer Feindseligkeit gepaart, dazu ein Zähnefletschen) genügen. Aber das war beileibe kein normaler Tag. Also bedachte sie ihn mit einem Blick der Stufe fünf (einem gewaltdrohenden Blick, der das Blut in den Adern gefrieren ließ) und gestattete sich ein verächtliches Lächeln, als er benommen zurücktaumelte. Dann fing sie aufs neue an und schlug wieder zu, um ihre Verletzbarkeit zu überwinden, das schreckliche Gefühl, ohne Schutz zu sein. Sie trommelte und trommelte und hoffte, so wieder
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