Quade 03 - Suesse Annie, Wildes Herz
ging, würden Annie und Phaedra auf einem der
Balkone stehen und so viele der Missetäter identifizieren, wie es ihnen möglich
war.
Er stürzte den Inhalt seines Glases
in einem Zug herunter, stellte es auf den Tisch zurück und beendete sein Bad. Eine
Krise nach der anderen, St. James, sagte er sich. Eine nach der anderen.
Etwa eine Stunde nach dem Bad, als
Rafael zum Dinner hinunterging, erwarteten ihn nur Chandler Haslett und Felicia
am Tisch. Chandler schien besorgt, obwohl er freundlich und zuvorkommend war,
während Felicia schrecklich beunruhigt wirkte.
»Barrett sagte, du wolltest die
gesamte Garnison morgen früh antreten lassen«, sagte sie zu Rafael, nachdem die
Suppe aufgetragen worden war. »Hältst du das für klug? Ich habe Angst, daß es
Repressalien erzeugen könnte ...«
Rafael betrachtete schweigend seinen
Freund, bevor er kühl bemerkte: »Barrett ist sehr freigebig mit vertraulicher
Information. Ich werde mit ihm darüber sprechen müssen.«
Felicia war blaß, und ein seltsames
Flimmern stand in ihren braunen Augen. Ihre Hand zitterte, als sie den Löffel
auf den Tisch zurücklegte. »Wage es ja nicht, Edmund Vorwürfe zu machen«,
wisperte sie, als könnte sie durch Flüstern verhindern, daß Chandler ihre
Worte hörte. Natürlich veranlaßte es ihn nur, aufzuhorchen. »Er weiß, daß er
mir vertrauen kann, und du weißt es auch!«
Da Rafael eine Woche lang von
Armeerationen und Kaninchenfleisch gelebt hatte, war er jetzt froh über die
gute Mahlzeit im Palast und hörte nicht auf zu essen. Nach einem Schluck Wein
fragte er gelassen: »Ist es dein Bruder, um den du dich so sorgst?«
Felicias einziger lebender
Verwandter, ihr Bruder Jeremy Covington, war Leutnant in der bavianischen Armee
und in Morovia stationiert. Felicia und Jeremy standen sich sehr nahe, aber da
er jünger war als Rafael, etwa in Lucians Alter, hatte der Prinz selten mehr
als einige Worte mit dem jungen Covington gewechselt.
»Ja«, erwiderte Felicia mit
ungewöhnlicher Verbitterung. »Ich will nicht, daß Jeremy von einem
Aufständischen erschossen wird, nur weil du darauf bestehst, sämtliche Soldaten
in Morovia zu einer Strafpredigt vor dem Schloß zu versammeln.«
»Eine Strafpredigt?« entgegnete
Rafael genauso bitter. »Weißt du, was diese Männer getan haben, Felicia?«
Sie errötete. »Natürlich weiß ich
das. Aber warum sollten wegen der Missetaten einiger weniger alle Truppen
in Gefahr gebracht werden?«
Rafael griff nach seinem Weinglas
und trank einen weiteren Schluck daraus. »Die Männer wissen sich sehr gut zu
schützen«, erwiderte er nüchtern. »Jeremy mehr noch als die anderen, da er
ziemlich rasch im Rang aufgestiegen ist.«
»Du könntest eine Ausnahme machen
...«
Rafael unterbrach sie mit einem
Kopfschütteln, und Felicia warf ihre Serviette auf den Tisch, schob ihren
Stuhl zurück und stürmte aus dem Raum. Chandler erhob sich höflich und schaute
stirnrunzelnd den Prinzen an.
»Du hättest Leutnant Covington zu
einer privaten Unterredung ins Schloß bestellen können, Rafael«, schlug er
ruhig vor.
»Nein«, erwiderte Rafael. »Jeder
Mann wird die gleiche Behandlung erfahren, einschließlich meines Bruders
Lucian.« Damit war das Thema abgeschlossen, und Rafael sah an Chandlers
resigniertem Blick, daß er sich klar genug ausgedrückt hatte. »Und jetzt sag
mir, wie es Phaedra geht.«
Bei Anbruch des Morgens gesellte Annie
sich zu Phaedra, Mr. Barrett und dem Prinzen selbst, die sich auf einem hohen
Balkon versammelt hatten, der teilweise durch die Äste eines Baums verdeckt
wurde. Doch obwohl diese Terrasse einen guten Blick auf den Schloßhof und die
Straße vor dem Palast bot, vermochte Annie keinen der Männer zu erkennen, die
sie an jenem schrecklichen Tag auf dem Marktplatz gesehen hatte. Viele der
Soldaten hatten ähnlich helles Haar wie der Anführer jenes Trupps, der Annie
von seinem Pferd aus einen Fußtritt versetzt hatte.
»Vielleicht würde ich sie erkennen,
wenn ich sie aus der Nähe sähe«, sagte Annie. »Aus dieser Entfernung ...«
Rafael zögerte einen Moment und
wandte sich dann an seine Schwester. »Phaedra?«
Die Prinzessin schüttelte den Kopf,
und Annie hatte den Eindruck, daß sie sich an Mr. Barrett lehnte, wenn auch nur
unmerklich. Phaedra zitterte wie Espenlaub und war erschreckend blaß. »Nein,
Rafael ... Sie sehen alle ganz ähnlich aus ...«
Rafael und Edmund wechselten einen
Blick.
»Keine Sorge«, beruhigte Mr. Barrett
den Prinzen. »Ich werde
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