Quade 03 - Suesse Annie, Wildes Herz
was in seiner Macht stand, für
das Volk von Bavia getan hatte und es doch nicht genug gewesen war. Sie hätte
Rafael gern berührt, um ihn zu trösten, aber sie spürte, daß zuviel
Zärtlichkeit ihn jetzt nur schwächen würde.
Endlich sagte er wieder etwas. »Du
wirst niemandem von Nutzen sein, wenn du nicht ißt und ruhst«, sagte er. »Und
noch etwas, Annie ...«
Eine Frau kam aus der Kapelle und
verlangte schüchtern ihr Kind zurück.
»Ja?« fragte Annie, als sie wieder
mit Rafael allein war. »Ich danke dir«, sagte er, bevor er sich abrupt abwandte
und ging.
Annie schaute ihm nach, bis er in
der Dunkelheit verschwunden war. Dann, geblendet von ihren Tränen, betrat sie
die Burg durch die große Eingangshalle. Sie war hell erleuchtet, und überall
saßen, hockten und lagen Mitglieder der Palastwache herum.
Als Annie an ihnen vorbeieilte und
sich zur Treppe wandte, fragte sie sich, wie viele dieser neu eingetroffenen
Männer Verräter sein mochten, denn einige von ihnen waren es ganz bestimmt.
Sie war überrascht, als sie
Kathleen, die Magd, die sie in Morovia kennengelernt hatte, in ihrem Zimmer
antraf, wo das Mädchen gerade ein Feuer im Kamin anzündete.
»Hallo, Miss Trevarren!« rief
Kathleen erfreut. »Du lieber Himmel — Sie sind ja ganz schmutzig, und Ihr Haar
ist aufgelöst! Ich wette, daß Sie auch noch nichts gegessen haben, denn Sie
sind weiß wie die Innenseite eines Engelsflügels ...«
Mr. Haslett hatte Annie versichert,
daß die Palastangestellten sicher sein würden, da immer nur die königliche
Familie Zielscheibe der Rebellen gewesen war, und deshalb hatte sie sich nicht
allzusehr um Kathleen oder die anderen gesorgt. Dennoch war sie jetzt heilfroh,
die junge Frau zu sehen.
Annie ließ sich in einen Sessel beim
Feuer sinken, zu müde, um ihr Gesicht zu waschen oder auch nur ihre Hände, und
Kathleen brachte ihr eine Tasse dampfend heißen Tee.
»Wie bist du hergekommen?«
Kathleen schien eher aufgeblüht
durch ihre Erlebnisse statt bedrückt. »Die Rebellen haben uns hinausgeworfen,
als sie den Palast besetzten, Miss«, berichtete sie. »Es waren königstreue
Soldaten auf der Straße, und sie kannten uns aus der Zeit, in der sie in
Morovia gedient hatten. Sie ließen uns
auf ihren Pferden mitreiten, die
anderen Mädchen und mich — außer der alten Köchin natürlich. Sie fuhr in einem
Vorratskarren mit.«
Müdigkeit, Erleichterung und
Dankbarkeit trieben Annie wieder die Tränen in die Augen; sie streckte ihre
freie Hand aus und drückte Kathleens Finger. »Ich bin so froh, daß du hier
bist! Ich brauche Hilfe, Kathleen, und keineswegs die Art von Hilfe, an die du
jetzt wahrscheinlich denkst.«
»Ich habe Wasser in der Küche auf
den Herd gestellt«, sagte Kathleen. »Lassen Sie es mich eben holen, damit Sie
sich waschen können, bevor ich Ihnen Ihr Essen bringe, und dann können Sie mir
sagen, wie ich Ihnen helfen kann.«
Eine Stunde später hatte Annie sich
gewaschen und soviel von ihrem Abendessen gegessen, wie sie herunterbringen
konnte. Sie vermochte kaum noch die Augen aufzuhalten, als sie endlich, in
einen warmen Wollschal gehüllt, am Feuer saß. Während Kathleen ihr langes Haar
ausbürstete, berichtete Annie ihr von den Flüchtlingen, die im Laufe des Tages
Zuflucht in der Burg gefunden hatten, fast alle verängstigt und verwirrt, und
einige von ihnen sogar krank.
»Selbstverständlich werde ich Ihnen
helfen, Miss«, sagte Kathleen sofort, als Annie ihren traurigen Bericht beendet
hatte. »Aber ich werde mich auch um Sie kümmern, damit Sie nicht krank
werden und selbst im Bett enden. Sie sind nämlich der Typ Mensch, der — wenn
Sie mir die Bemerkung gestatten wollen — sich immer ein bißchen zuviel
zumutet.«
Annie lächelte. Es war eine
Feststellung, der sie nichts entgegenzusetzen hatte. »Hat man dir schon ein
Quartier zugewiesen?«
»O ja, Miss«, erwiderte Kathleen und
legte die Haarbürste beiseite. »Ich habe ein hübsches Bett und eine Truhe für
meine Sachen. Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf über mich, denn ich bin wie
Sie. Ich komme sehr gut allein zurecht.«
Annie malte sich in Gedanken aus, wie
es für Kathleen gewesen sein mußte, als der Palast von Rebellen eingenommen
wurde und sie ihn verlassen mußte, zusammen mit den anderen Dienstboten. Wie
sie sich auf Straßen hatten wagen müssen, in denen Chaos und Zerstörung
herrschte, und wie sie außerhalb der Stadtmauern nach dem langen Regen durch
knietiefen Schlamm gewatet waren ... »O
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