Rabenblut drängt (German Edition)
Schreibtisch. Mein E-Mail-Postfach quoll über, und ich betätigte zigmal den Löschbutton, bis nur noch drei Mails übrigblieben. Zwei davon waren von meinem Bruder Timo. Er fragte, ob er mich in den Weihnachtsferien besuchen könne.
Warum eigentlich nicht? Ich hatte nicht vor, nach Hause zu fahren, und Timo würde es hier bestimmt gefallen. Ich schrieb ihm eine kurze Mail zurück, dass ich noch mit Marek und Lara sprechen müsse, aber dass beide sicher einverstanden wären. Seine zweite Nachricht war nur ein Ungeduldsbeweis, weil ich mich so lange nicht gemeldet hatte. Die letzte Mail war von der Uni, ich verschob sie direkt in den Papierkorb.
Aus einer Laune heraus tippte ich das Wort ›Rabe‹ in das Google-Fenster und erhielt fast dreihunderttausend Suchergebnisse. Der größte Teil davon waren Gaststätten mit klingenden Namen, wie › Die drei Raben ‹ oder › Zum Rabenhorst ‹. Auch Spieleverlage und Hotels schmückten sich mit diesem Federvieh. Irgendeine Volleyball-Mannschaft nannte sich › Die Roten Raben ‹ - Himmel! Genervt änderte ich den Suchbegriff in › Kolkrabe ‹ und die Ergebnisliste verkleinerte sich auf Neuntausend. Ein Rabenforum beschäftigte sich mit der artgerechten Haltung von Rabenvögeln, aber die Themen, die mich interessierten, konnte ich nicht einlesen. › Link nur für registrierte und freigeschaltete Mitglieder sichtbar. ‹ Ich durchforstete die Standardergebnisse von Wikipedia und las einige Links, die sich hauptsächlich mit Verhaltensforschung befassten. Auf der Seite des WDR fand ich einen Artikel mit der Überschrift › Schlaue Raben ‹.
Okay, darüber wusste ich inzwischen Bescheid.
Da ich eigentlich gar nichts Bestimmtes suchte, ließ ich mich von Link zu Link treiben und landete schließlich auf › Das schwarze Netz ‹. Rabenmythologie. Tiere der Unterwelt und des Todes. Gefolgschaft des Teufels. Ich scrollte nach unten und entdeckte auf derselben Seite Werbung eines Versandhandels für Jagdbedarf. Deren Kunden verkündeten voller Stolz, wie viele Krähen sie mit Hilfe von Lockkrähen erschossen hatten. Und das, obwohl es gesetzlich verboten war, Singvögel abzuschießen. Ekelhaft.
Ich dachte daran, wie Alexej mir von der griechischen Mythologie erzählt hatte. Auch in den Geschichten, die ich hier lesen konnte, war der Rabe immer der Böse, der bestraft wurde und deshalb ein schwarzes Gefieder trug und dessen wohlklingende Stimme von Apoll in ein grässliches Krächzen verwandelt worden war. Nur in der germanischen Mythologie galten die Raben Odins als treue Gefährten, die ihrem Gott die Nachrichten der Welt ins Ohr flüsterten. Ich las davon, dass Odin selbst sich in einen Raben verwandeln konnte, und die Geschichte gefiel mir. Angeblich lebte sogar König Artus in der Gestalt eines Raben weiter.
Ob mein neuer gefiederter Freund wusste, welche berühmten Brüder er hatte? Ich versuchte mir vorzustellen, wie es wohl wäre, sich in einen Vogel zu verwandeln. Wie es sich wohl anfühlen würde, wenn man einfach alles unter sich lassen könnte? Ich träumte vor mich hin, bis ich ein paar Worte in Kursivschrift auf meinem Bildschirm las, die erst keinen Sinn ergaben. Nur langsam tröpfelte die Bedeutung in mein Hirn. Ich las die Zeilen noch einmal. Es war das Zitat eines US-amerikanischen Predigers aus dem neunzehnten Jahrhundert:
› Wenn Männer Flügel hätten und schwarze Federn trügen, wären wenige von ihnen schlau genug, um Raben zu sein. ‹
Wenn Männer Federn trügen.
Ich seufzte wehmütig. Alexej war schlau. Wenn er Flügel hätte und Federn trüge, dann wäre er ganz sicher ein Rabe.
Nimmermehr
W ir erreichten Prag am späten Nachmittag und trennten uns auf Höhe der Jiráskův-Brücke. Arwed würde zu seiner Familie fliegen, während ich Nikolaus aufsuchte. Ich hoffte, dass er nicht gerade auf einer Probe wäre. Aber die Chancen standen gut, es lag weder ein Feiertag noch ein Wochenende vor uns. Ich überflog die Střelecky-Insel und genoss den Anblick der sich im Wasser spiegelnden Brückenbeleuchtung. Die Scheinwerfer der Schiffe strahlten in rotgelben Balken auf der Oberfläche. Eine kühle Brise trug mich vorwärts, hinein in die tausend glitzernden Punkte, die vor meinen Augen verschwammen und die Altstadt erhellten.
In der Ferne sah ich den Hradschin, die gotischen Türme der Veitskathedrale ragten dahinter in den grauen Himmel. Dank Milo wusste ich, wo ich Nikolaus finden würde, und ich war beeindruckt: Wie hatte
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