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Rabenmond - Der magische Bund

Titel: Rabenmond - Der magische Bund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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kam gar nicht richtig mit. Zuerst war sie verwirrt, weil da so viele Länder verzeichnet waren. Und noch dazu waren alle so groß oder gar größer als Wynter! In den Ruinen hatte man ihr beigebracht, Wynter sei der Mittelpunkt der Welt, das größte, das einzige bedeutende Reich überhaupt. Natürlich hatte sie von den Geschwisterstaaten gehört, jenen furchtbaren Ländern des Chaos und des Krieges... aber sonst? Ihr wurde klar, dass sie nie wirklich darüber nachgedacht hatte, wie die Welt aussah. Alles außerhalb von Wynter war für sie Wildnis gewesen.
    »Ja, aber... wenn Whalentida ein Königreich der Menschen ist... gehört es denn dann nicht zu den Feinden?«
    »Zu Modos und Ghoroma, meinst du?« Atlas winkte ab und bemerkte zum Glück nicht, dass auch diese beiden Namen Mion unvertraut waren. »Blödsinn. Es gibt ein paar Menschenreiche, gegen die haben die Drachen gar nichts. Und zwar weil sie dort hübsche Waren haben, und Geld und wichtige Handelswege...«
    Ungläubig starrte sie die Landkarte an. Sie musste unbedingt mehr Bücher lesen.
     
    In den folgenden Tagen besuchte Mion Atlas immer wieder, um mit ihm das neue Kleid zu besprechen, Anproben zu machen und Änderungen vorzunehmen. So wie das feine Gewand sich entwickelte, reifte ihre Freundschaft. Atlas war der gebildetste Mensch, den Mion kannte, und er behielt sein Wissen nicht für sich: Wenn er merkte, dass sie etwas nicht wusste, streute er wie beiläufig Erklärungen ein, ohne sie in ihrer Unkenntnis bloßzustellen. Mion achtete ihn dafür umso mehr. Vielleicht war er kein Abenteurer und vielleicht hätte sie mit ihm keinen Obsthändler ausrauben können wie damals mit Saffa und Kajan, aber schließlich hatte auch Mion sich verändert und war jetzt an anderen Dingen interessiert.
    Wenn sie ihre Anproben hinter sich hatten, saßen sie zwischen Entwürfen und Stoffen zusammen, sprachen über die Welt, die Kunst und Faunias Wutanfälle, alles durcheinander, und alles war gleich wichtig, wie es nur bei echten Freunden ist.
     
    Der Tag der Sonnenwende war sommerlich schwül. Am späten Nachmittag ging Mion durch den Garten im Hof, sog tief den Duft der dunkelgrünen Gräser und der Seerosen ein und lauschte dem friedlichen Zirpen der Grillen. In ihrem Bauch tobte ein Kribbeln, als hätte sich eine Ameisenkolonie eingenistet, aber nach außen hin war sie ruhig. Hoffentlich nahm Jagu sie mit zum Fest - hoffentlich, hoffentlich. Gestern Nacht hatte sie, schlaflos und unruhig, gesehen, dass in seinem Zimmer wieder Licht brannte. In der Früh war er beim Essen gewesen, aber sie hatten nicht gesprochen. Mion und Faunia waren so aufgeregt und verbissen gewesen, dass sie kein Wort herausgebracht hatten. Hätte Mion den Mund aufgemacht, wäre wahrscheinlich nur ein Schrei herausgekommen, oder ein ganz hohes Quietschen. Sie konnte sich immer noch nicht entscheiden, ob sie gespannt war oder schlichtweg wütend, dass Jagu so ein demütigendes Spiel mit ihnen spielte. Hin und wieder siegte ihr Eifer über das beklemmende Gefühl der Hilflosigkeit.
    Dann sah sie ihn am anderen Ende des Gartens, wie er zwischen den Federgräsern am Teich stand. Das Abendlicht fädelte sich durch die Blätter, und Mücken tanzten über dem glitzernden Wasser, in das Jagu Brotkrumen für die Zierfische streute. Er wirkte verlassen und allein auf der Welt und in diesem Moment hätte er ein Mörder sein können und Mion wäre ihm nicht einmal böse gewesen. Er hob den Blick und bemerkte sie. Mit einem Lächeln winkte er ihr zu. Im trügerischen Licht, das viel zu warm, viel zu satt war für die Jahreszeit, kam er ihr wie ein Junge vor. Wie ein Junge, dem die Vergangenheit auf den Schultern lastet und dem die Zukunft dafür umso strahlender erscheint, ein Junge zwischen Schatten und Licht, Verzweiflung und Triumph, für immer jung und dabei älter, müder, gebrochener als die schlaftrunkenen Bäume.
     
    Lange stand sie vor ihrem Kleid und konnte es nur ansehen, zu ehrfürchtig, um es tatsächlich zu berühren. Atlas hatte es ihr heute geschickt, in einen parfümierten Seidenkarton gebettet. Heute würde sie es anziehen, um sich zu verwandeln, so wie die Drachen mit ihren Tiergestalten …
    Sie flocht sich die Haare zu einem kleinen Turm auf, wie Faunia ihn oft trug. Sie hatte sich auch eine Halskette von ihr stibitzt, ein schwarzes Samtband mit einem runden Mondstein als Anhänger - das hieß, sie hatte das Dienstmädchen Herone damit beauftragt, die unbehelligt in Faunias Zimmer

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