Rache - 01 - Im Herzen die Rache
beiseite und zog ihren Laptop zu sich heran. Sie musste Chase das Gedicht schicken, »Unerreichbar« .Wie abgemacht.
Sie grübelte über dem Text, las noch einmal die ersten Zeilen:
Wie ein plötzlicher Schauder
ergreifst du mein Herz
Vielleicht darf es nicht sein
doch von nun an bin ich
ganz
dein
Natürlich wusste niemand, um wen es in dem Gedicht ging. Weder Fiona noch Lauren, die beide letztes Jahr zur Preisverleihung gekommen waren und Em applaudiert hatten. Noch nicht einmal Gabby. Gabby dachte, Em hätte das Ganze frei erfunden – dass sie eben eine so unheimlich gute Dichterin war. Sie hatte keine Ahnung, nach wem Em sich in Wahrheit sehnte. Welcher Junge »unerreichbar« war.
In diesem Augenblick traf mit einem kleinen Pling eine neue E-Mail in ihrem Posteingang ein.
Sie klickte sie an. Es war eine Nachricht mit anonymem Absender und dem sonderbaren Betreff: Bitte, Sir, haben Sie etwas Kleingeld übrig?
Als Em sie öffnete, erschien ein unscharfes Foto von Chase – offensichtlich ein Schnappschuss mit dem Handy – wie er auf der Rambling Brook-Brücke auf den Knien lag. Die Aufnahme war von der Seite gemacht worden; Chase war im Profil zu sehen, in Jeans und Jacke. Das Bild sah beinahe so aus wie aus einem Hochglanzmagazin, ein Mann, der einer Frau einen Antrag macht. Es hätte glatt eine Werbeanzeige für Diamantschmuck sein können. Aber irgendetwas stimmte daran nicht. Da war etwas Verzweifeltes. Chase kniete auf beiden statt auf einem Knie, mitten im Schnee, und hielt die Hände gefaltet, als ob er um etwas flehte. Und vor ihm schien gar niemand zu stehen.
Em scrollte nach unten. Die Bildunterschrift war eine Fortsetzung der Betreffzeile: Bitte, Sir, haben Sie etwas Kleingeld übrig? Die Zeiten für das amerikanische Wohnwagen-Gesindel werden immer härter.
Das Foto war an die komplette elfte Jahrgangsstufe der Ascension High verschickt worden. Chase würde ausrasten.
Ein schleichendes Gefühl von Unbehagen begann in Ems Magen zu rumoren. Sie war eigentlich nicht direkt in der Stimmung, für Chase Partei zu ergreifen, aber trotzdem, dieses Foto – und die Tatsache, dass es auch noch überall verbreitet worden war – ärgerte sie wirklich. Durften die Leute keine Geheimnisse mehr haben? Kein Privatleben?
»Die Menschen können ja so fies sein«, sagte plötzlich eine halblaute Stimme hinter ihr.
Em stieß einen Schrei aus, sprang von ihrem Barhocker auf und warf ihn um, als sie herumwirbelte.
»Hey, hey, schschsch. Ich bin’s doch nur.« JD fing den Hocker gerade noch auf, bevor er zu Boden krachte. »Mensch, Winters. Ganz schön schreckhaft heute, was?«
»Ich hab fast einen Herzschlag gekriegt!« Sie schlug nach ihm und versuchte, ihr rasendes Herz zu beruhigen, indem sie tief Luft holte.
»Sorry, M&M. Ich dachte, du hörst mich reinkommen.« Er sah ganz weich und zerknittert aus, als wäre er gerade erst aufgestanden. Er trug noch nicht einmal eines seiner üblichen albernen Outfits – bloß eine alte Jeans und ein Band-Shirt. »Du hast das wohl auch gekriegt, hm?« JD zeigte auf das Foto, das auf Ems Computer geöffnet war. Sie nickte, mit immer noch wild pochendem Puls.
»Das ist einfach nur … bescheuert«, sagte JD und ließ sich auf den Barhocker neben Ems plumpsen. »Und hirnlos. Ich meine, wer macht denn so etwas?«
Emily merkte, dass JD richtig sauer war. Er fuhr sich dauernd mit der rechten Hand durchs Haar, wie so häufig, wenn er sich ärgerte. Er sah wirklich aus wie ein verrückter Professor.
»Weißt du, ich kann Chase Singer ja nicht mal leiden«, fuhr er fort. »Aber das finde ich trotzdem unter aller Sau.«
»Natürlich kannst du ihn nicht leiden«, erwiderte Em und drehte sich auf dem Hocker um, sodass sie ihn ansehen konnte. »Er hat uns schließlich in der zehnten Klasse das Leben zur Hölle gemacht. Weißt du noch, in Physik? Jedes Mal wenn du eine Frage beantwortet hast, hat er gehüstelt und gelacht und dich XXL-Nerd genannt.«
JD lief ein kleines bisschen rot an. »Erstens, Emerly, bin ich irgendwie ein XXL-Nerd. Und zweitens, selbst wenn er mich ›Häßlicher-fetter-stinkender-dummer-popelfressender-ewige-Jungfrau-Nerd‹ genannt hätte, würde ich immer noch denken, dass es unter aller Sau ist. Verstehst du?«
Ems schlechtes Gewissen stach eiskalt zu. JD war immer ein so verdammt guter Mensch.
»Stimmt. Es ist wirklich voll daneben.« Sie schloss das Foto in ihrem Browser und versuchte, das Thema zu wechseln. »Also, was führt dich
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