Racheklingen
denken. Sie hatte genug Schmerzen ertragen in den letzten Monaten. Ein wenig mehr war ein geringer Preis, den sie gern dafür zahlte, um näher an Ario heranzukommen. So nahe, dass sie ihm sein abfälliges Grinsen würde aufschlitzen können. Schon allein diese Vorstellung ließ sie wieder ein wenig aufrechter gehen.
Carlot dan Eider wartete kurz vor dem Treppenaufgang auf sie. Sie stand zwischen zwei mit grauen Tüchern abgedeckten Spieltischen und strahlte in ihrem roten Kleid, das jeder Kaiserin aus den alten Legenden alle Ehre gemacht hätte, eine geradezu königliche Überlegenheit aus.
»Nun sieh uns doch mal einer an«, bemerkte Monza sarkastisch, als sie zu Eider trat. »Eine Generalin, die wie eine Hure gekleidet ist, und eine Hure, die sich als Königin verkleidet hat. Heute Abend versucht wohl jeder, etwas anderes zu sein.«
»So ist das in der Politik.« Arios Mätresse warf Cosca einen Blick zu. »Wer ist das?«
»Magisterin Eider, welch große und unerwartete Ehre.« Der alte Söldner verbeugte sich und nahm den Hut ab, wobei er seine schorfige, mit Schweißtropfen besetzte kahle Stelle auf dem Kopf zeigte. »Ich hätte mir niemals träumen lassen, dass wir beide uns je wieder begegnen würden.«
»Sie!« Eider starrte ihn kalten Blickes an. »Ich hätte mir ja denken können, dass Sie in dieser Sache mit drinstecken. Ich dachte, Sie seien in Dagoska umgekommen!«
»Dachte ich auch, aber dann stellte sich heraus, dass ich nur sehr,
sehr
betrunken war.«
»Nicht so betrunken, dass es Ihnen nicht gelungen wäre, mich zu hintergehen.«
Der alte Söldner zuckte die Achseln. »Es ist immer eine wahre Schande, wenn ehrliche Leute hintergangen werden. Wenn es jedoch den Betrügern passiert, dann hat es doch immer irgendwie einen Hauch von … kosmischer Gerechtigkeit.« Cosca grinste von Eider zu Monza und zurück. »Drei Leute, treu und loyal wie wir, auf ein und derselben Seite? Ich kann kaum erwarten, wie das wohl ausgehen wird.«
Blutig, vermutete Monza. »Wann werden Ario und Foscar hier sein?«
»Wenn Sotorius’ großer Ball sich allmählich dem Ende neigt. Mitternacht, oder kurz vorher.«
»Wir werden warten.«
»Das Gegengift«, zischte Eider. »Ich habe meinen Teil erfüllt.«
»Das bekommen Sie, wenn ich Arios Kopf auf einer Platte vor mir habe. Vorher nicht.«
»Und was, wenn etwas passiert?«
»Dann sterben Sie mit uns zusammen. Hoffen Sie lieber darauf, dass alles glattläuft.«
»Was hält Sie überhaupt davon ab, mich sterben zu lassen?«
»Mein fantastischer Ruf, stets gerecht zu sein und mich guter Manieren zu befleißigen.«
Wie zu erwarten war, lachte Eider nicht. »Ich habe versucht, in Dagoska das Richtige zu tun.« Sie stieß Monza den Zeigefinger gegen die Brust. »Ich habe versucht, das Richtige zu tun! Ich habe versucht, Menschen zu retten! Und sehen Sie, was es mir eingebracht hat!«
»Vielleicht ist Ihnen das eine Lehre, dass es mit dem Richtigen immer so eine Sache ist.« Monza zuckte die Achseln. »Das Problem hatte ich noch nicht.«
»Sie machen vielleicht Witze! Wissen Sie, wie das ist, wenn man jeden Augenblick in Angst lebt?«
Monza machte einen schnellen Schritt auf sie zu, und Eider wich zurück, bis sie die Wand berührte. »In Angst leben?«, fauchte Monza, und ihre Masken trafen beinahe aufeinander. »Willkommen in
meinem
verdammten Leben! Und jetzt hören Sie auf zu jammern und lächeln schön für Ario und die anderen Arschlöcher beim Ball heute Abend!« Sie senkte ihre Stimme zu einem Flüstern. »Und dann bringen Sie ihn zu uns. Ihn und seinen Bruder. Tun Sie, was ich Ihnen sage, und dann gibt es für Sie vielleicht doch noch ein glückliches Ende.«
Sie wusste, dass sie beide das für nicht sehr wahrscheinlich hielten. Die Festlichkeiten des heutigen Abends würden für die meisten wenig glücklich enden.
Day drehte den Bohrer noch einmal. Die Spitze biss knirschend ins Holz, dann zog sie ihn vorsichtig wieder heraus. Ein kleiner Lichtfleck drang in die Dunkelheit des Spitzbodens und warf einen hellen, kreisrunden Fleck auf ihre Wange. Sie grinste Morveer an, und ihn überkam plötzlich die bittersüße Erinnerung an das Lächeln seiner Mutter im Kerzenschein. »Wir sind durch.«
Es war nicht der rechte Augenblick für Nostalgie. Er schluckte die aufwallenden Gefühle hinunter und kroch zu ihr hinüber, wobei er sich alle Mühe gab, seine Füße lediglich auf die Balken zu setzen. Wenn plötzlich ein schwarz gekleidetes Bein durch die
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