Rachel im Wunderland: Roman (German Edition)
vielleicht lernen, so zu werden«, regte Helen an. »Du musst zäher werden. Du bist so ein Baby. Du kannst dich doch nicht jedes Mal, wenn Mum – oder sonst jemand – dich anschreit, an den Rand des Todes bringen. So überlebst du keine fünf Minuten.«
Josephine hatte genau das Gleiche zu mir gesagt. In meinem Kopf klingelte es, weil ich plötzlich verstand, was sie gemeint hatte, als sie sagte, es bestünden noch ungelöste Spannungen zwischen mir und meiner Mutter. Ich hatte genickt und ihr zugestimmt, doch kaum kam eine dieser ungelösten Spannungen zum Vorschein, vergaß ich all ihre guten Ratschläge.
Ich hatte meine erste Prüfung in der Welt nicht bestanden.
Beim nächsten Mal wüsste ich besser Bescheid.
»Wenn sie mal wieder sauer auf dich ist, musst du sie einfach ignorieren.« Helen schien meine Gedanken zu erraten und strahlte mich ermutigend an. »Ist doch egal, wenn sie einem sagt, man sei der letzte Dreck. Man muss an sich selber glauben.«
»Außerdem meint sie es nicht so«, warf Anna ein.
»Bei dir schon«, sagte Helen zu ihr.
Ich hatte das Gefühl, dass sich die schwere, schwarze Wolke der Niedergeschlagenheit von mir hob. Es war wunderbar zu entdecken, dass meine Schwestern sich von Mum genauso schlecht behandelt fühlten wie ich mich und dass der einzige Unterschied zwischen uns unsere Haltung war. Für sie war es ein amüsanter Sport, während ich es mir viel zu sehr zu Herzen genommen hatte. Und daran sollte ich etwas ändern.
»Hilft dir das, Mum besser zu verstehen?«, fragte Anna sanft. »Sie ist nur so ausgerastet, weil sie sich solche Sorgen gemacht hat, als du nicht nach Hause gekommen bist. Sie war fast hysterisch, weil sie dachte, du hättest mit diesem Chris Drogen genommen. Wenn jemand besorgt ist, sagt er Dinge, die er nicht meint.«
Verlegen fügte sie hinzu: »Ich habe mir auch Sorgen gemacht.«
»Clean und heiter, so ist sie, unsere Anna, was?« Helen streckte sich und gähnte. »Wie lange ist es jetzt her, dass du was genommen hast?«
»Das geht dich gar nichts an«, sagte Anna hochnäsig. Und dann fingen sie an, sich zu kabbeln, aber ich bekam kaum etwas davon mit, weil plötzlich Scham- und Schuldgefühle auf mich einstürzten. Andere Scham- und Schuldgefühle als die, die mich seit dem Aufwachen gepeinigt hatten. Die jetzt betrafen mein Verhalten gegenüber meiner Mutter. Natürlich hatte sie sich Sorgen gemacht, begriff ich mit entsetzlicher Klarheit. Es war noch keine Woche her, dass ich aus Cloisters gekommen war. Ich war süchtig, ich hatte meinen ersten Ausflug in die Welt gewagt, hatte mich mit jemandem getroffen, der bekanntermaßen ein schlechter Einfluss war, und ich war nicht nach Hause gekommen. Wenn sie das Schlimmste vermutet hatte, so hatte sie jedes Recht dazu. Ich hatte es verdient, dass sie mich zusammenstauchte.
Sie hatte mir Egoismus vorgeworfen. Und zu Recht. Ich war so mit mir und Chris beschäftigt gewesen, dass ich nicht sah, wie sehr sie sich um mich gesorgt hatte. Reumütig fasste ich den Entschluss, Abbitte zu leisten, sobald ich sie sah.
Langsam fing ich an, mich ganz gut zu fühlen, doch dann fiel mir ein, dass mein Streit mit Mum nicht das Einzige war, was mir auf der Seele brannte.
»Ich habe versagt«, wandte ich mich an Helen und Anna. »Ich habe wieder Drogen genommen.«
»Na und ?«, sagten sie beide.
Na und?, dachte ich angewidert. Sie hatten wohl keine Ahnung, wie ernst die Lage war.
»Mach es einfach nicht noch mal.« Helen zuckte die Achseln. »Bei einer Diät ist es genauso. Wenn du an einem Tag ausrastest und fünf Mars isst, heißt das ja nicht, dass du am nächsten Tag nicht wieder mit der Diät anfangen kannst. Im Gegenteil, man hat noch mehr Grund dazu.«
»Wenn es nur so einfach wäre«, sagte ich traurig.
»Es ist so einfach, verdammt noch mal«, sagte Helen gereizt. »Hör auf, dich selbst zu bemitleiden.«
»Du kannst mich mal«, murmelte ich.
»Du kannst mich auch mal«, sagte sie aufgeräumt.
Wie sie es sagte, klang es so vernünftig. Als hätte ich einfach überreagiert. Vielleicht hatte ich wirklich überreagiert, dachte ich voller Hoffnung. Wäre es nicht wunderbar, wenn sich alles zum Guten wenden ließe?
Mum kam, nachdem Helen und Anna gegangen waren. Ganz aufgewühlt setzte ich mich im Bett auf und wollte mich gleich entschuldigen. Doch Mum kam mir zuvor.
»Es tut mir so leid«, sagte sie mit zutiefst unglücklicher Miene.
»Nein, ich muss mich entschuldigen«, widersprach ich mit einem Kloß
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