Radio Miracoli und andere italienische Wunder
anderen Flügel und reißt ihn mit bloßen Händen auf der Verankerung. Um unseren Rückstand aufzuholen, träufle ich Öl auf die verrosteten Stellen, während Claudio es mit Sergios Ein-Hand-Technik versucht. Als es uns endlich gelingt, den ersten Jalousieflügel abzumontieren, haben Sergio und Fausto bereits alle Fensterläden aus dem ersten Stock auf einen Stapel geschichtet und machen sich gerade über einen großen, trockenen Baumstamm her. Claudio und ich schmirgeln um die Wette und sehen dabei dem Duell aus Axthieben zu. Das oberste Gebot scheint klar zu sein: Wer mehr als einen Schlag braucht, um einen Ast zu zerteilen, ist ein Loser. In der Zeit, die wir benötigen, jeweils vier Jalousieflügel abzuschleifen, wird von den beiden Duellanten ein vier Meter langer Baum in einen Stapel Brennholz verwandelt, bereit, in unserem Kamin verfeuert zu werden.
Fausto macht eine Pause, um kurz Luft zu holen. Der Schweiß läuft ihm über den Rücken, Blasen bedecken seine Hand. Sergio ergreift diese Gelegenheit, seinen Gegner ein für alle Mal auszubooten, und schlendert in Richtung des Lattenzauns, der hier und da zwischen dem hohen Gras hervorlugt. Breitbeinig stellt er sich davor, drückt sich eine Holzlatte an die Brust und zerrt sie mit einem Ruck aus der Erde. Anschließend reißt er die zusammengenagelten Holzteile auseinander, als wären es japanische Essstäbchen. Jede Aktion dieses Mannes ist eine Zurschaustellung von Männlichkeit.
»Gut, dann fang schon mal an. Ich löse dich gleich ab!«, ruft Fausto zu ihm hinüber. »Wenn ich nicht diesen verdammten Bandscheibenvorfall hätte …«, fügt er hinzu und fasst sich an den Rücken.
Fausto, Herr über die Renovierungsarbeiten, hat das Zepter weitergereicht – an Sergio, den geborenen Anführer. Doch angesichts unserer totalen Unfähigkeit ist es natürlich ein Leichtes, die Führungsrolle zu übernehmen.
Wie in einem Western kündet eine große Staubwolke die Ankunft eines jeden Fahrzeugs an, das sich uns auf der unbefestigten Straße nähert. In diesem Fall handelt es sich um einen alte Alfa Romeo Giulia 1300 in Dunkelgrün. Das markante Modell, das man aus zahllosen Filmen kennt, wo es abwechselnd von Bullen oder Schwerverbrechern gefahren wird, kommt im Hof zum Stehen. Am Steuer sitzt ein Mann, der auf den ersten Blick wie ein Bauer aussieht. Aus den halb geöffneten Fenstern dringt klassische Musik. Hier scheint das Bild mit einer falschen Tonspur unterlegt zu sein. Bei dem Kerl hätte ich mir eher neapolitanische Canzoni oder eine Tarantella erwartet. Die Bauern sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren. Als ich mich dem Auto nähere, rechne ich damit, einen vierschrötigen, runzeligen Kerl im karierten Hemd zu sehen, doch stattdessen erblicke ich durch die Windschutzscheibe einen vierschrötigen, runzeligen Kerl mit markanter Brille in haselnussbraunem Anzug und weißem Hemd, dessen Kragen über das Revers der Jacke geklappt ist. Eine Mischung aus Mario Merola und Tony Manero – aus Volkssänger und Disco-Held.
Der Mann schaltet das Radio aus, steigt aus dem Wagen und schließt die Tür. Das Radio geht von selbst wieder an, und der Mann greift durch das geöffnete Seitenfenster und bringt es mit einem gezielten Schlag auf das Armaturenbrett zum Schweigen. Er verharrt noch einen Moment wartend in dieser Position, die Augen auf den Übeltäter gerichtet, und dreht sich erst zu mir um, als er überzeugt ist, das Radio endgültig betäubt zu haben.
Unsere beiden Alphamännchen würdigen mich und unseren Besuch kaum eines Blickes, sondern wenden sich sofort wieder den widerspenstigen Resten des Lattenzauns zu. Auch Claudio zieht den Kopf ein und schmirgelt verbissen weiter, um ja nicht in die lästige Kontaktpflege mit der Nachbarschaft verwickelt zu werden. Innerlich gewappnet, höflich sein Angebot abzulehnen, uns mit lokalem Käse zu versorgen, lächle ich dem alten Bauern zu. Der Mann kommt mit jovialer Miene, die ein wenig aufgesetzt wirkt, näher und gibt mir die Hand. In der Gegend scheint Nivea-Creme nicht bekannt zu sein.
»Ihr seid wohl neu hier?«, fragt der Alte im lokalen Dialekt.
»Ja, wir sind vor ein paar Wochen eingezogen. Sind Sie ein Nachbar?«
»Der Ort ist klein. Hier sind wir alle Nachbarn. Wollt ihr hier was aufmachen?«
Interessiert schaut er sich um.
»Ja, ein Landhotel …«
»Und die Genehmigungen habt ihr alle, ja?«
Ist der Alte vielleicht ein Polizist in Zivil?
»Ja, natürlich. Uns fehlt nur noch das Okay
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