Rain Wild Chronicles 02 - Drachenkämpfer
nachzudenken, ergriff er ihre Hand – und wunderte sich über sich selbst. Wieso waren seine Gefühle zu ihr so wechselhaft? Schließlich war es vor allem ihre Schuld, dass er an diesen verlassenen Ort, auf dieses öde Schiff und nun auch noch an einen schwachsinnigen Drachen gekettet war. Wie konnte er Mitleid mit ihr empfinden?
Vielleicht weil es vor allem seine Schuld war, dass sie in einer Ehe gefangen war, die ebenso verlassen und öde war, an einen Mann gekettet, der ihr so viel Zuneigung wie dem nächstbesten räudigen Hund entgegenbrachte?
»Hest ist nicht wie wir«, erklärte er und fragte sich, ob er jemals etwas Wahreres gesagt hatte. »Ich weiß nicht, ob er überhaupt jemanden liebt in dem Sinne, wie wir dieses Wort gebrauchen. Gewiss schätzt er dich. Denn er weiß, dass du seine Hoffnung auf einen Erben bist.« Plötzlich ging ihm der Vorrat an geschmeidigen Worten aus. »Ach, Alise«, seufzte er und drückte ihre schmalen Schultern. »Nein. Er liebt dich nicht. Ihr habt eine reine Zweckehe. Für Hest war es nützlich, eine Frau zu haben, sich häuslich einzurichten und zu versuchen, einen Erben zu bekommen. Seine Eltern haben ihn allmählich unter Druck gesetzt, dass er sich wie ein anständiger Händlersohn verhalten soll. Mit dir konnte er diese Fassade erschaffen, ohne seinen Lebenswandel grundlegend ändern zu müssen. Es tut mir leid, meine Freundin. Er liebt dich nicht. Er hat es nie getan.«
Er machte sich darauf gefasst, dass sie in Schluchzen ausbrechen würde. Er bereitete sich darauf vor, sie so gut es ging zu trösten. Was er nicht erwartete, war, dass sie sich aufrichtete und die Schultern straffte. Sie seufzte schwer, aber es flossen keine Tränen. Sie schniefte ein paarmal, bevor sie gleichmütig sagte: »Nun. Das wäre also das. Das habe ich mir gedacht. Wahrscheinlich habe ich das verdient. Ich habe einen Handel mit ihm geschlossen. Das rede ich mir immerzu ein. Vielleicht kann ich es jetzt, da ich die Wahrheit auch von dir gehört habe, mit vollem Herzen glauben. Und entscheiden, was ich nun tun werde.«
Das klang gefährlich. »Alise, meine Liebe, du kannst nichts dagegen tun. Außer das Beste daraus zu machen. Geh nach Hause. Lebe ein anständiges Leben. Setze deine Studien fort und ergänze sie mit dem, was du auf dieser Expedition erfahren hast. Bringe ein Kind zur Welt. Oder Kinder. Die werden dich so lieben, wie du es verdient hast.«
»Und wie könnte ich sie dazu verdammen, Hest zum Vater zu haben, wenn ich sie liebe?«
Darauf wusste er keine Antwort. Er versuchte, sich Hest als Vater vorzustellen, aber es gelang ihm nicht. Kinder und beißender Spott passten nicht zusammen. Eleganz und schreiende Säuglinge? Ein hochmütiges Lächeln und ein Fünfjähriges, das ihm Blumen reichte? Bei jeder dieser Vorstellungen zuckte er zusammen. Sie hatte recht, wie er zögernd zugeben musste. Hest wollte und brauchte zwar ein Kind, damit seine Linie einen Erben bekam. Aber Hest als Vater war das Letzte, was ein Kind brauchte. Oder verdiente.
Alise wischte sich Tränen von den geröteten Wangen. »Nun, ich habe keine Lösung für meine Zwickmühle. Ich habe versprochen, seine Frau zu sein, mit ihm zu schlafen und ihm falls möglich ein Kind zu gebären. Darauf habe ich mein Wort gegeben. Es war ein schlechtes Geschäft, das ist klar, aber was soll ich machen? Den Fluss weiter hinauffahren und für immer verschwinden?«
Ihre Frage klang beinahe hoffnungsvoll, als könnte er einer solch verzweifelten Idee zustimmen.
»Das kannst du nicht machen«, sagte er unverblümt. Sie ahnte nicht, dass er damit auch seine eigene Frage beantwortete. Denn er wollte fast ebenso sehr davonlaufen wie sie. Doch die Regenwildnis war weder für ihn noch für sie ein geeigneter Ort. So schlecht die Dinge zu Hause auch standen, gehörten sie doch nicht hierher. Jedes Mal, wenn er sich sagte, dass er nicht zurückkehren konnte, wurde ihm umso deutlicher bewusst, dass er auch nicht hierbleiben konnte.
Sie ließ den Kopf hängen und sah zu Boden, fast als ob ihr etwas hinuntergefallen wäre. Als sie den Blick wieder zu ihm hob, wurden ihre wettergegerbten Wangen nur noch röter. »Ich kam in deine Kabine, als du weg warst. Als ich glaubte, dass du ertrunken und mir für immer geraubt worden wärest. Ich machte mir fürchterliche Vorwürfe, weil ich dich so vernachlässigt habe. Durch meinen Kopf gingen hundert schreckliche Dinge, die dir hätten zugestoßen sein können. Dass du tot wärst oder verletzt,
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