Rain Wild Chronicles 02 - Drachenkämpfer
Chalcedanische Kaufmann Sinad Arich würde sich fragen, was aus seinem Söldling geworden war, falls Jess nichts mehr von sich hören ließ. Nun, sollte er sich ruhig fragen! Der Regenwildfluss war gefährlich. Auf ihm waren schon viele Menschen gestorben, die ebenso erfahren, aber um einiges liebenswerter als Jess gewesen waren. Leftrin spürte, wie sich der Entschluss in ihm verfestigte. Jess musste sterben.
Aber er würde ihn in eine Falle locken müssen. Und dazu musste er ihm einen glaubwürdigen Sinneswandel vorspielen. Kurz fragte er sich, ob er ihm auch weismachen konnte, dass er sein Interesse an Alise verloren hatte. Wenn Jess in ihr keine Waffe mehr sehen würde, die er gegen ihn einsetzen konnte, würde er sie vielleicht nicht mehr weiter belauern. Danach brauchte Leftrin nur noch auf die passende Gelegenheit zu warten.
Teermann stieß ihn an. »Was?«, fragte er und stand auf. Ein schneller Blick in die Umgebung ließ keine Gefahr erkennen. Entgegen seinem Vorwand gegenüber Alise war dieser Abschnitt des Flusses leicht zu befahren. An den Seiten wucherten Schilfwiesen in den Fluss hinein, sodass der Kahn durch sie hindurchfahren musste. Hier machten die Fischer reiche Beute, und die Drachen würden sich unterwegs wahrscheinlich schon die Bäuche vollschlagen.
Dann erkannte er zwischen den Bäumen jenseits des Schilfstreifens eine Bewegung. Die Bäume erbebten, gelbe Blätter und kleine Zweige fielen herab. Kurz darauf ging eine Welle durch die Schilfstauden und bewegte sich auf den Fluss hinaus. Das Wasser schlug gegen den Schiffsrumpf, und die Welle setzte sich jenseits davon fort, bis sie im tiefen Wasser verschwand.
»Beben!«, kam Swarges Ruf von achtern.
»Beben!«, brüllte Eider den Hütern in ihren Booten zu.
»Richtig«, stimmte Leftrin mit ein. »Bringt Teermann so weit wie möglich vom Ufer weg, ohne mit den Stangen den Grund zu verlieren. Alle Mann auf Posten!«
»Auf Posten!«, erwiderte ihm die Mannschaft.
Während Teermann sich vom Ufer entfernte, sah Leftrin eine weitere Welle durch die Bäume laufen. Blätter, Zweige und alte Vogelnester regneten herab. Kurz darauf neigten sich die Schilfhalme zum Fluss hin, gefolgt von einer Woge, die den Kahn erschütterte. Leftrin runzelte die Stirn, hielt den Blick aber auf die Bäume gerichtet. In der Regenwildnis kam es häufig zu Erdbeben, doch meistens fielen sie so schwach aus, dass man sie nicht weiter beachtete. Stärkere Erschütterungen dagegen bedeuteten nicht nur für die Arbeiter in den versunkenen Elderlingsstädten eine Gefahr, sondern brachten auch alte, morsche Bäume zum Einsturz. Und selbst wenn ein solcher den Kahn nicht direkt traf, konnte er das Schiff zum Sinken bringen, nach allem, was Leftrin gehört hatte. Angeblich war zur Zeit seines Großvaters einmal ein Baum umgefallen, der so groß war, dass der Verkehr auf dem Fluss zum Erliegen gekommen war und die Arbeiter ein halbes Jahr lang gebraucht hatten, um ihn zu entfernen. Auch wenn Leftrin seine Zweifel am Wahrheitsgehalt der Geschichte hatte, besaß jede Legende doch einen wahren Kern. Bestimmt war diese entstanden, weil irgendwo ein besonders mächtiger Baum gestürzt war.
»Was ist los?«, fragte Alise besorgt. Auf die Rufe hin war sie an Deck gekommen.
Ohne sie anzublicken, gab er zurück: »Wir hatten ein Erdbeben, und zwar ein ordentliches. Im Moment stellt es kein Problem für uns dar, und es sieht so aus, als habe es lediglich die Bäume durchgerüttelt. Keiner ist umgefallen. Wenn nicht noch ein stärkerer Erdstoß folgt, ist alles gut.«
Er rechnete es Alise hoch an, dass sie nur nickte. Am Verwunschenen Ufer kam es häufig zu Erdbeben, und auch in Bingtown waren sie keine Seltenheit. Aber er bezweifelte, dass sie schon einmal eines auf offenem Wasser erlebt hatte. Oder dass sie jemals hatte befürchten müssen, dass ein großer Baum umstürzen würde. Und vermutlich war auch die Warnung für sie neu, die er jetzt aussprach: »Manchmal führt ein Beben dazu, dass der Säureanteil im Flusswasser ansteigt. Aber das passiert nicht auf der Stelle. Man vermutet, dass irgendetwas flussaufwärts passiert, was einen Ausstoß der weißen Flüssigkeit auslöst. In zwei oder drei Tagen stellen wir dann plötzlich fest, dass der Fluss milchig geworden ist. Oder auch nicht. Ein richtig starkes Beben ist ein Anzeichen, dass es eine heftige Ausschüttung geben wird.«
Sofort begriff sie die eigentliche Gefahr. »Was machen die Drachen, wenn der Fluss sauer wird? Und
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