Rasheed, Leila
Die Frage schien harmlos, kam ihr aber trotzdem irgendwie – unangebracht vor. Sie zögerte noch mit der Antwort, da läutete die Türglocke. Annie schrak zusammen.
»Du liebe Zeit! Wer kann das denn sein um diese Zeit? Mr Cooper ist mit auf der Jagd, und ich kann nicht aufmachen, ich bin ganz voller Mehl. Du musst gehen, Rose.«
»Ich?« Rose war bestürzt. »Aber es wird nicht gern gesehen, wenn Dienstmädchen die Tür öffnen …«
»Heute bleibt uns nichts anderes übrig. Jetzt mach schon, saus los!«
Rose wischte die Hände an der Schürze ab, strich sich hastig die Haare aus dem Gesicht und rannte die Treppe hinauf, wobei sie immer zwei Stufen auf einmal nahm. Bis sie die weite Marmorfläche der Eingangshalle überquert hatte, hatte sich ihr Atem wieder beruhigt. Verlegen schob sie den Riegel zurück und öffnete die große Tür.
»Rose!« Vor ihr stand, leicht schwankend, mit geröteten Wangen und funkelnden Augen, Mr Sebastian Templeton. Das im Hintergrund parkende Automobil zischte und knarrte noch. Sebastians Kammerdiener lud einen Picknickkorb aus; auch seine Wangen waren hochrot, die Haare zerzaust.
»Mr Templeton!« Rose war erst verwirrt, dann belustigt. Sie wich zurück, als Sebastian Templeton in einer Duftwolke aus Kölnischwasser und Champagner hereintänzelte. Er war nicht richtig betrunken, erkannte Rose, nur beschwipst. Aber sie durfte ihn in diesem Zustand nicht in den Salon lassen.
»Keine Sorge, Rose, ich habe nicht die Absicht, meine Mutter und ihre Gäste zu stören.« Er zwinkerte ihr zu, während er die Handschuhe und die Automobilistenkappe abstreifte und auf den Tisch in der Halle warf. »Wir haben eine grandiose Spritztour hinter uns und sind in bester Stimmung, nicht wahr, Oliver?«
»Sehr wohl, Sir.« Oliver folgte ihm mit dem Picknickkorb. Rose fing seinen Blick auf und verbiss sich ein Lachen. Doch da verflog mit einem Mal seine entspannte Fröhlichkeit und er fuhr erschrocken zusammen. Er ließ den Picknickkorb fallen, stürzte an Rose vorbei und rief: »Sebastian! Was ist?«
Sebastian? Rose war von dieser Anrede schockiert. Sie drehte sich um, sah Mr Templeton und unterdrückte selbst einen Aufschrei. Mr Templeton war schneeweiß geworden, geriet ins Wanken, ins Taumeln und – stürzte geradewegs gegen die Westlake-Vase.
Rose sprang herbei und versuchte noch, sie aufzufangen. Zu spät. Die Vase schlug auf dem Boden auf und zerbrach mit ohrenbetäubendem Krach in tausend Scherben.
Oliver hatte den Arm um Mr Templeton gelegt und stützte ihn.
»Es geht mir gut … ausgezeichnet«, presste Sebastian mühsam hervor. Seine Lippen zitterten. Oliver führte ihn zu einem Stuhl, aber er schüttelte seinen Kammerdiener ab. »Nein, nein, ich will mich nicht setzen.«
»Was ist passiert, Sir? Ist Ihnen übel geworden? Soll ich den Arzt rufen?« Rose ging voller Angst auf ihn zu, wich aber wieder zurück, als unter ihren Füßen die Splitter knirschten.
»Nein! Das heißt – danke. Es geht schon wieder.« Er atmete tief ein und lehnte sich an die Wand. Die Farbe kehrte in seine Wangen zurück. »Ich … ich muss mich ausruhen, weiter nichts. Bestimmt hatte ich nur zu viel Sonne und Champagner.«
Er richtete sich wieder auf und ging wortlos zur Treppe, ohne sich noch einmal umzublicken. Oliver, selbst ganz blass und verstört, folgte ihm. Rose fasste ihn am Arm.
»Soll ich ganz sicher nicht den Arzt rufen? Das wäre kein Aufwand.«
»Es ist wohl nicht nötig«, antwortete Oliver leise. »Ich glaube, es war kein Schwächeanfall. Er hat dort hinübergeschaut, zum Dienstbotendurchgang, und wenn mich nicht alles täuscht, hat er dort etwas gesehen, was ihm einen gewaltigen Schrecken eingejagt hat.«
Rose folgte seinem Blick zu der mit grünem Wollstoff bespannten Schwingtür. Als sie wieder zu Oliver hinübersah, eilte der schon mit sorgenvollem Gesicht die Treppe hinauf, Mr Templeton nach.
Er hat etwas gesehen, dachte Rose. Oder jemanden? Jetzt erinnerte sie sich: Als sie die Durchgangstür zur Eingangshalle aufgedrückt hatte, hatte sie sie nicht wieder zurückschwingen hören. Sie lief zum Durchgang und spähte die Treppe zum Dienstbotentrakt hinunter. Niemand war dort, aber ihr stieg der Geruch einer Zigarette in die Nase.
Was immer Mr Templeton gesehen hat, dachte sie, es muss für ihn ein Riesenschock gewesen sein, der ihn mit einem Schlag wieder hatte nüchtern werden lassen.
Aber sie hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Sie musste die Überreste der Averley-Vase
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