Rebecka Martinsson 02 - Weisse Nacht
in Mildreds Arbeitszimmer im Gemeindehaus. Sie hat einen Kräutertee mit Honig eingeschenkt. Den Tee hat sie von einigen Frauen aus Magdalena bekommen, die die Kräuter selbst gesammelt haben. Sie lachen über den schrecklichen Geschmack.
Einer von Benjamins Kumpel ist von Mildred konfirmiert worden. Und über diesen Kumpel haben Mildred und er einander kennen gelernt.
Auf Mildreds Schreibtisch liegt das Buch The Gate . Jetzt hat sie es gelesen.
»Was sagst du also?«
Das Buch ist dick. Sehr dick. Viel Text auf Englisch. Auch viele Farbbilder.
Es geht um The Gate to the Unbuilt House, to the World You Create . Das Tor zum ungebauten Haus, zu der von dir erschaffenen Welt. Es ist eine Ermahnung, durch Riten und Gedankenkraft die Welt zu erschaffen, in der man in Ewigkeit leben will. Es geht um den Weg dorthin. Selbstmord. Kollektiv oder einsam. Der englische Verlag ist von einer Gruppe von Eltern verklagt worden. Vier Jugendliche haben sich im Frühjahr 1998 gemeinsam umgebracht.
»Mir gefällt die Vorstellung, dass man seinen eigenen Himmel erschafft«, sagt sie.
Dann hört sie zu. Gibt ihm Taschentücher, wenn er weint. Das macht er, wenn er mit Mildred spricht. Weil er das Gefühl hat, dass er für sie wichtig ist.
Er erzählt von seinem Vater. Darin liegt sicher eine kleine Rache. Dass er mit Mildred spricht, die sein Vater verabscheut.
»Er hasst mich«, sagt er. »Aber das ist mir egal. Wenn ich mir die Haare schneiden ließe und in Hemd und heilen Hosen umherliefe und in der Schule lernte und zum Klassensprecher ernannt würde, dann wäre er auch noch nicht zufrieden. Das weiß ich.«
Jemand klopft an die Tür. Mildred runzelt verärgert die Stirn. Wenn das rote Lämpchen brennt…
Die Tür wird geöffnet, und Stefan Wikström kommt herein. Eigentlich hat er an diesem Tag frei.
»Hier bist du also«, sagt er zu Benjamin. »Nimm deine Jacke, und mach, dass du ins Auto kommst.«
Zu Mildred sagt er: »Und du hörst auf, dich in meine Familienangelegenheiten einzumischen. Er will nicht lernen. Er zieht sich so an, dass man sich übergeben möchte. Macht der Familie Schande, so gut er nur kann. Und du bestärkst ihn munter darin, wenn ich das richtig verstanden habe. Lädst ihn zum Tee ein, wenn er Schule schwänzt. – Hast du nicht gehört? Jacke und Auto!«
Er klopft auf seine Armbanduhr.
»Du hast jetzt gerade Schwedisch, ich fahr dich zur Schule.«
Benjamin bleibt sitzen.
»Deine Mutter sitzt zu Hause und weint. Deine Klassenlehrerin hat bei uns angerufen und wollte wissen, wo du steckst. Du machst Mama krank. Willst du das wirklich?«
»Benjamin wollte nur reden«, sagt Mildred. »Manchmal…«
»Man redet mit seiner Familie«, erklärt Stefan.
»Ach, wirklich!«, ruft Benjamin. »Aber du willst ja gar nicht antworten. Wie gestern, als ich dich gefragt habe, ob ich mit Kevin und seiner Familie mit zur Grenze fahren kann.«
»Lass dir die Haare schneiden, und zieh dich an wie ein normaler Mensch, dann rede ich mit dir wie mit einem normalen Menschen.«
Benjamin springt auf und nimmt seine Jacke.
»Ich fahr mit dem Rad zur Schule. Du brauchst mich nicht hinzubringen.«
Er stürzt aus dem Zimmer.
»Das ist deine Schuld«, sagt Stefan und zeigt auf Mildred, die noch immer die Teetasse in der Hand hält.
»Du tust mir leid, Stefan«, sagt sie dazu. »Du musst doch schrecklich einsam sein.«
»WIR LASSEN IHN LAUFEN«, sagte Anna-Maria zum Staatsanwalt und ihren Kollegen. Sie ging in den Pausenraum und bat die Frau vom Jugendamt, Mutter und Sohn nach Hause zu bringen.
Dann ging sie in ihr Zimmer. Sie fühlte sich müde und mutlos.
Sven-Erik kam vorbei und fragte, ob sie mit zum Mittagessen kommen wollte.
»Es ist doch schon drei«, sagte sie.
»Aber hast du etwas gegessen?«
»Nein.«
»Nimm deine Jacke. Ich fahre.«
Sie grinste.
»Warum willst du fahren?«
Tommy Rantakyrö tauchte hinter Sven-Eriks Rücken auf.
»Ihr müsst kommen«, sagte er.
Sven-Erik schaute ihn düster an.
»Mit dir red ich nicht mal«, sagte er.
»Wegen der Sache mit dem Kater? Das sollte doch bloß ein Witz sein. Aber das hier müsst ihr euch anhören.«
Sie folgten Tommy Rantakyrö in Verhörraum 2 . Dort saßen eine Frau und ein Mann. Beide in Wanderkleidung. Der Mann war ziemlich groß gewachsen, hielt eine militärgrüne Schirmmütze mit einem Firmenlogo in der Hand und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die Frau war unnatürlich mager. Sie hatte die tiefen Fältchen in der Oberlippe, die sich
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