Rebellen: Roman (German Edition)
Beerdigungen könnten sie so viel essen, wie sie wollten. Joachim, der Ältere, hatte sogar schon mal einen Schnaps getrunken. Und sie zeigten mir das Geld, das ihnen der Bräutigam nach einer Hochzeit zugesteckt hatte. Aber abgeben wollten sie mir nichts.
Ich wollte wie meine Brüder sein.
Meine Mutter sagte: »Setz dich, mein Kind. Schau her, das ist so: Männer werden leicht abgelenkt, wenn eine Frau unter ihnen ist. Der Pfarrer und die Messdiener sind dann nicht so nahe bei Gott, wie sie sein sollten. Sie wollen aber ihre ganze Liebe Gott schenken. Sie möchten sich doch ganz auf unseren Herrn konzentrieren. Und das willst du doch auch.«
Dass der Pfarrer und meine Brüder sich meinetwegen nicht auf Gott konzentrieren konnten, fand ich absurd. Nur weil ich ein Mädchen war, wurde ich zurückgesetzt, und alle fanden das normal. Es war ungerecht. Empörend!
Als die erste monatliche Regel einsetzte, nahm mich meine Mutter zur Seite und schenkte mir ein Bildchen von der Heiligen Mutter Gottes. »Setz dich, mein Kind. Ich muss mit dir reden. Du weißt doch sicher, dass Eva das Gebot unseres Herrn gebrochen und den Apfel gegessen hat.«
Natürlich wusste ich das. »Sie hat vom Baum der Erkenntnis gegessen.«
»Ja, vom Baum der Erkenntnis. Und als Strafe für diese Sünde von Eva gebären wir Frauen unter Schmerzen. Und ab jetzt erinnert dich der Herr Jesus einmal im Monat mit kleineren Schmerzen an die Sünde der Eva.«
Diesmal wurde ich richtig wütend, und zum ersten Mal in meinem Leben schrie ich Mama an: »Schmerz, weil Eva die Sache mit dem Apfel nicht hingekriegt hat? Nicht Messdiener werden können, weil die Männer sich nicht konzentrieren können?«
»Kind, Gott liebt dich. Er hat sich schon etwas dabei gedacht, als er es so eingerichtet hat. Du kannst doch zur katholischen Jugend gehen.«
Noch etwas gehört zu mir. Seit ich denken kann, wollte ich immer wissen, wollte immer verstehen. Ich traute mir nie zu, die Dinge im Großen und Grundsätzlichen zu ändern, wie Alexander und Paul es wollten. In meinem Umfeld, in dem Radius, den ich übersehe, habe ich Kraft und Energie zur Veränderung, bin ich hartnäckig und wohl auch ehrgeizig, aber eine Umstürzlerin im großen Sinn bin ich nie gewesen.
Als Kind ahnte ich wohl eher, als dass ich es wirklich wusste, dass es außerhalb unserer Familie und unseres Dorfes viel zu entdecken gab. Klar würde ich auf der Volksschule bleiben. Das war der Normalfall.
Aber: Ich ging gern in die Schule. Und ich war gut.
»Kommt nicht infrage«, meinte der Vater, als ich ihm sagte, ich wolle aufs Gymnasium. »Irgendwann heiratest du und kriegst Kinder.«
»Ich heirate nicht.«
»Ach Kind«, sagte die Mutter.
»Das wirst du schon sehen«, sagte der Vater.
Immerhin ging meine Mutter eines Nachmittags in die Schule und redete mit der Lehrerin.
»Du bist ja die beste Schülerin«, sagte sie erstaunt, als sie zurückkam.
»Ich will aufs Gymnasium.«
»In deinem Alter war ich auch sehr gut in der Schule.«
»Ich schaffe das. Bitte!«
»Jetzt ist aber Schluss mit dem Unsinn«, sagte der Vater.
Was meine Mutter sagte, war immer vorhersehbar. Sie redete nach, was in der Bibel stand, und befolgte das, was der Pfarrer sagte. Doch zweimal überraschte sie mich. Zweimal in ihrem ganzen Leben wich sie von diesem Prinzip ab.
Vielleicht hing die erste Überraschung mit ihrer eigenen Kindheit zusammen. Sie war die jüngste Tochter meiner Großeltern, und ich weiß, dass sie sehr gerne selbst aufs Gymnasium gegangen wäre. Meine Großeltern erlaubten es nur zweien ihrer Brüder. Sie musste auf der Volksschule bleiben, weil sie ein Mädchen war.
»Ich rede mit dem Pfarrer«, sagte sie.
Sie kam wütend aus dem Pfarrhaus zurück. Dann meldete sie mich im Görres-Gymnasium in Koblenz an. »Ich kann dir nicht helfen«, sagte sie. »Du musst es alleine schaffen.«
Sie konnte mir wirklich nicht helfen. Wenn ich sie bat, meine Englischvokabeln abzuhören, wusste sie nicht, wie man die Wörter aussprach. In Mathe – Totalausfall schon im ersten Jahr. Physik, Chemie, Bio – ich war ganz auf mich gestellt.
Mutter achtete darauf, dass meine Hefte sauber geführtwurden, meine Schrift leserlich blieb, solche Dinge. Wenn ich eine Klassenarbeit schrieb, betete sie am Vorabend. Bekam ich eine gute Note, teilte sie mir freudestrahlend mit, dass der Herr ihr Flehen erhört habe. Ich ärgerte mich und wurde wütend, denn ich wusste, dass ich die gute Note meinen eigenen Anstrengungen zu
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