Rebellin der Leidenschaft
schicklich war, oder, schlimmer noch, ein prüder, blaublütiger Brite. Aber es gab bestimmt noch viele krasse Gegensätze zwischen ihnen. Stone hatte aus dem Nichts, mit schierer Willenskraft, ein großes Schifffahrtunternehmen aufgebaut, mit nichts als eiserner Entschlossenheit und seinen bloßen Händen. Wer ihn kennen lernte, kam erst einmal nicht auf den Gedanken, dass er ein erfolgreicher Geschäftsmann und Großindustrieller war. In seinen Büros arbeitete er in Hemdsärmeln wie ein kleiner Angestellter, und er war offen und leutselig - allerdings geriet er auch rasch in Wut, wenn seine Leute nicht ihr Bestes gaben. Wann immer er konnte, ließ er jedoch die Büros hinter sich und steuerte als Kapitän mit einem seiner Schiffe einen fernen Hafen an. Seine Liebe zur See hatte schon in jungen Jahren begonnen - mit dreizehn war er das erste Mal zur See gefahren. Er war nie ein Mensch gewesen, der‘sich lange hinter einen Schreibtisch hätte zwängen lassen. Er war immer einer gewesen, der draußen sein musste, auf dem Meer. Das Meer war sein Leben, seine Liebe.
Er versuchte, sich auf das Unvermeidliche vorzubereiten. Sein Sohn war nicht nur ein Aristokrat, sondern sogar ein Herzog. Stone musste nichts über ihn wissen, um der Überzeugung zu sein, dass er wahrscheinlich noch nie in seinem Leben einen Finger rühren oder sonst irgendwie für sich selbst hatte sorgen müssen. Damit zurechtzukommen, fiel ihm sehr schwer. Denn er hatte es nicht nur bis ganz nach oben geschafft, sondern er hatte dabei auch ganz unten angefangen und keinerlei harte Arbeit gescheut. Und jetzt musste er sich in aller Aufrichtigkeit eingestehen, dass sein Sohn sehr wahrscheinlich nie in seinem Leben durch ehrliche Arbeit ins Schwitzen gekommen war. Stone war entschlossen, ihn dafür nicht zu verurteilen, auch wenn sein Sohn die Arbeitsethik offen verachten sollte.
Aber wie würde sein Sohn über ihn urteilen?
Er hoffte, dass das, was er in seinem Brief wahrgenommen hatte, nur höfliche Formalität war - und nicht etwa kühle Indifferenz oder gar hochnäsiger Snobismus. Doch die Frage stand im Raum, und sie hatte ihn verfolgt, seit er vom Titel seines Sohnes erfahren hatte. Würde sein Sohn ihn akzeptieren können - einen einfachen, hart arbeitenden Mann, der sich als Kapitän zur See betrachtete?
Bei dem Gedanken zog sich sein Magen zusammen. Er hatte in seinem Leben nur sehr wenig Angst gehabt, doch er fürchtete sich davor, dass sein Sohn ihn zurückweisen könnte. Er fürchtete sich davor, dass sein Sohn ihn von oben herab betrachten würde. Er hatte genügend Adlige kennen gelernt, Briten und andere Europäer, um zu wissen, dass sie sich für etwas Besseres hielten als gewöhnliche Menschen - dass sie Snobs waren.
So sehr er ihr Treffen herbeisehnte, so sehr fürchtete er sich davor.
Und für all diese Umstände hatte er rasch einen Schuldigen ausgemacht - Isobel. Hätte er gewusst, dass er einen Sohn hatte, dann hätte er die Verantwortung für ihn übernommen, und zwar mit Recht. Dann wäre der Junge nicht in den Salons der britischen Oberklasse aufgewachsen, sondern auf den Decks zur See fahrender Schiffe. Er hätte den Wert harter Arbeit kennen gelernt, und er hätte gelernt, auf sich stolz zu sein aufgrund dessen, wer er war, und nicht aufgrund eines verdammten Titels.
Aber es hatte nicht sein sollen. Wegen Isobel, die ihm seinen Sohn vorenthalten hatte. Isobel, die ihn all diese Jahre getäuscht hatte.
Wut stieg in ihm auf.
All diese Jahre hatte sie ihm ihren Sohn vorenthalten. Isobel war die einzige Frau, die er je geliebt hatte. So sehr er sich darum bemüht hatte, er hatte ihre Vorstellung von Pflicht und Loyalität nicht verstanden, er hatte nicht verstanden, wie sie ihn wirklich lieben und trotzdem zu ihrem Ehemann zurückkehren konnte. Doch seine Liebe zu ihr hatte nie gewankt. In beinahe dreißig Jahren nicht, trotz der Qual, trotz des Kummers. Bis jetzt.
Sie hatte ihm seinen Sohn vorenthalten. Sie war nicht die Frau, für die er sie all die Jahre gehalten hatte. Sie war egoistisch und unehrlich. Sie hatte ihn getäuscht. Absichtlich hatte sie die Tatsache von der Existenz seines Sohnes von ihm fern gehalten. Sie hatte ihm seinen Sohn vorenthalten. Daran führte kein Weg vorbei, darüber kam er nicht hinweg. Wut loderte in seinem Herzen, wo einst Liebe entflammt gewesen war. Er würde es ihr nie vergessen, und er würde ihr nie vergeben.
*
In dem Augenblick, als der Herzog den kurzen, brüsken Brief seiner
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