Rebellin der Leidenschaft
Elizabeth sein bester Freund gewesen war. Sein einziger Freund. Er war ein Mensch, der gern für sich blieb - eine Gewohnheit, die er sich schon in sehr früher Kindheit angeeignet hatte. Doch mit Elizabeth war es immer anders gewesen. Vielleicht hatte Pflichtgefühl sein Verhalten ihr gegenüber bestimmt, aber es war auch so leicht gewesen, mit ihr zusammen zu sein. Und so wie er ihre Beziehung immer als etwas Selbstverständliches betrachtet hatte, so war sie immer selbstlos gewesen. Was auch geschah, immer war sie für ihn da gewesen, hatte ihn immer unterstützt. Und wenn er einmal nicht für sie da gewesen war, dann hatte sie hundert Gründe zu seiner Entschuldigung aufzubieten gewusst.
Hätte er ihre Beziehung noch einmal leben können, er hätte es getan. Und dann wäre alles anders geworden.
Hadrian war übervoll von explosiven Emotionen, denen er sich nicht stellen wollte. Denn er hatte in seiner Kindheit auch gelernt, seinen Schmerz und seine Ängste sorgfältig zu verstecken. Immer zu verbergen, was er dachte oder fühlte, und nicht nur vor anderen, sondern auch vor sich selbst. Das hatte er viele Jahre lang mit Erfolg so gehalten - bis vor kurzem. Elizabeths tragischer Tod war nun der letzte Funke, und dieser Funke drohte sein Herz in Brand zu setzen.
Warum hatte sie sterben müssen? Wenn er auch nicht oft zur Kirche ging, so glaubte er doch an Gott, aber ihr Tod ergab einfach keinen Sinn. Andererseits war vieles, was er in seinem Leben erfahren und gesehen hatte, sinnlos gewesen. Die Grausamkeit seines Vaters seiner Mutter gegenüber hatte ebenso wenig Sinn gehabt wie die Grausamkeit seines Vaters ihm selbst gegenüber. Vielleicht gab es ja gar keinen Gott, oder vielleicht gab es einfach keine Gerechtigkeit und keine Gnade.
Vielleicht wäre er auch mit dem Kummer zurechtgekommen, wenn das alles gewesen wäre. Aber da war noch mehr, noch so viel mehr - das Schuldgefühl.
Düster genehmigte er sich noch einen Scotch Whiskey. Er saß in seiner Bibliothek - seit Tagen hatte er diesen Raum nicht verlassen. Hadrian schritt auf den Kamin zu und stocherte im Feuer herum im Versuch, seine Gedanken im Zaum zu halten. Aber sie kehrten unerbittlich immer wieder zum selben Thema zurück.
Schuld überwältigte ihn.
Elizabeth lag gerade erst im Grab, und schon wollte Nicoles Bild nicht mehr von ihm lassen. Verflucht sei sie!, dachte er und stocherte wild in die Glut, verflucht!
Oder sollte er sich selbst verfluchen?
In den vergangenen Monaten, in denen Elizabeth schwer krank und im Sterben gelegen war, hatte er kaum einen Gedanken für sie erübrigt, von seiner Aufmerksamkeit ganz zu schweigen. Sein ganzes Verlangen, all seine Leidenschaft hatte nur Nicole Shelton gegolten. Das hatte Elizabeth nicht verdient; nein, seine ganze Zuwendung hätte ihr zukommen müssen.
Ich bin ein Bastard, ein schrecklicher Bastard, ein selbstsüchtiger, begierlicher Unhold - gar nicht so anders als mein Vater.
Er schloss die Augen, doch das Bild in seinem Kopf wollte nicht verschwinden. Nicoles lebensprühendes, exotisch wirkendes Gesicht, ihr Lachen, ihre funkelnden Augen, neben Elizabeths bleichem, leblosem Antlitz.
Sie verkörperte von allem im Leben das Schönste; sie war feurige Energie, exotische Schönheit, unbezähmbarer Stolz. Elizabeth war niemals feurig, exotisch oder unbezähmbar gewesen, eher das genaue Gegenteil. Dieser Kontrast erschreckte ihn.
So weit war er gegangen auf einem Weg, den er nun nicht mehr verlassen konnte, trotz des Whiskeys; ein Weg, der ihn tief in sein dunkelstes und verborgenes, sein innerstes Wesen führte. Und er wollte nicht mehr einen Schritt weiter gehen.
Sehnsucht erfüllte ihn, eine heimliche Begierde, die er nicht abschütteln konnte, und diese Sehnsucht hatte einen Namen: Nicole.
Ein Klopfen an der Tür riss Hadrian aus seinen Gedanken. Er hatte dem Personal Bescheid gegeben, dass er nicht gestört werden wolle, doch würde er seinen Zorn nie an der Dienerschaft auslassen. »Ja?«, fragte er höflich.
Woodward trat ein, mit der reumütigsten Miene, zu der er fähig war. »Lady Nicole Shelton ist hier. Sie bestand darauf, dass ich sie ankündige, Euer Gnaden.«
Hadrians Herz pochte heftig. Das Sehnen, das Verlangen drohte ihm den Atem zu rauben. »Schicken Sie sie weg!«, knurrte er.
Woodward schien zu erschrecken, doch er fasste sich sofort wieder. »Jawohl, Euer Gnaden.«
»Warten Sie!«, rief Hadrian, als der Butler an der Tür war. »Ich habe es mir anders überlegt.
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