Recht und Gerechtigkeit: Ein Märchen aus der Provinz (German Edition)
um vierzehn Uhr dreißig »in der Strafsache gegen Jörg Kachelmann wegen Vergewaltigung und sexueller Nötigung« im Landgericht einzufinden.
Ungefähr drei Wochen vor diesem Termin bekam ich gegen Mittag einen Anruf. Der Mann am Telefon stellte sich als ein Kommissar der Polizeidirektion Heidelberg vor, und mein Herz machte wieder einmal, wie so oft zu dieser Zeit, einen Sprung – er sagte, die Staatsanwaltschaft habe ein Zeugenschutzprogramm für die Zeuginnen im Fall Kachelmann beantragt, und man würde nun jede Zeugin anrufen und, falls sie es wünsche, mit ihr absprechen, wie sie unbehelligt in das Landgericht gelangen könne. Ich empfand das damals als freund liche Geste, dass das Landgericht und die Staatsanwaltschaft sich zumindest darüber Gedanken machten, wie sie die völlig überflüssigerweise geladenen Zeuginnen wie mich wenigstens ein bisschen vor der sensationsgierigen Presse beschützen könnten. Dass einige dieser Damen, die geladen waren, den Auftritt allerdings sichtlich genossen und dass das Zeugenschutzprogramm auch dazu genutzt wurde, Exklusivität für Interviews zu sichern, hatte das Gericht nicht bedacht. Denn dadurch gab es keine Bilder ihrer Anreise ins Landgericht, und somit konnten diese Zeuginnen nicht nur ihre Aussage, sondern auch ihr Aussehen exklusiv vorab an die Presse verkaufen.
Dieses ganze Prozedere um den Weg in den Gerichtssaal hatte zudem den Nebeneffekt, dass es so aussah, als müssten die Frauen vor Jörg geschützt werden. Genau dazu ist ein Zeugenschutzprogramm schließlich normalerweise da. Und man hätte überhaupt niemanden vor der Presse schützen müssen, wenn man diejenigen, die zur Wahrheitsfindung sowieso nichts beitragen konnten, da sie zum fraglichen Zeitpunkt schlicht nicht anwesend waren, nicht geladen hätte. Das hätte vielen Frauen, die ihre Ladung als Chance für die Fünfzehn-Minuten-Prominenz à la Andy Warhol ansahen, die Bühne für ihre Selbstdarstellung entzogen.
Ein Verzicht auf die Ladung der von der Staatsanwaltschaft benannten Zeuginnen hätte dem deutschen Steuerzahler nicht nur viel Geld erspart. Es hätte auch die Nerven derjenigen Frauen geschont, die diese Ladung in keiner Weise gewünscht hatten und die durch das Gericht, die Staatsanwaltschaft und die Medien gedemütigt und dazu benutzt wurden, Jörg zu diffamieren. Denn um nichts anderes konnte es in Wirklichkeit gehen. Der gesamte mediale Zirkus, der sich unweigerlich aus der Ladung der »Beziehungszeuginnen« entwickelte, war für das Gericht vorhersehbar. Bereits vor der Hauptverhandlung hatten Bild , Bunte , Focus und sogar das Magazin der Süddeutschen Zeitung das angebliche Liebesleben des Angeklagten ausgebreitet und ausgeschlachtet. Nun wertete das Gericht diese Medienkampagne auch noch auf, indem es die Frauen zu juristisch wichtigen Zeuginnen für einen Anklagevorwurf machte.
Letztendlich hatten die Ladungen wohl auch die Funktion, der Öffentlichkeit zu zeigen: »Seht her, der Kachelmann hatte aber viele Frauen! Der muss ein Schwein sein! Dem zeigen wir jetzt mal, was deutsche Gerichte mit solchen Schwerenötern machen!« War es das, was man sich bei Gericht und der Staatsanwaltschaft erhoffte: Jörgs Ruf möglichst stark zu beschädigen? Zumindest erklärt sich so die Reihenfolge der Ladungsliste, die als Erstes zwei Polizisten und dann nur Exfreundinnen von Jörg vorsah. Die Anzeigeerstatterin sollte erst kurz vor Ende der Beweisaufnahme gehört werden, und die Gutachter, die von der Verteidigung beigezogen worden waren, waren auf der ersten Ladungsliste der 5. Großen Strafkammer überhaupt nicht be rücksichtigt worden. Die vom Vorsitzenden vorgesehene Dramaturgie der Beweisaufnahme war die einer Verurteilung.
Frau Dinkel als Nebenklägerin war es theoretisch erlaubt, sich alle Aussagen der Frauen anzuhören oder sich zumindest von ihrem Anwalt berichten zu lassen und ihre eigene Aussage darauf abzustimmen.
Wenn man keine Beweise für eine Anschuldigung hat, kann man den Angeklagten so lange moralisch diskreditieren, bis man behaupten kann, ihm sei die Tat zuzutrauen, um damit die eklatanten Mängel in der Aussage der Belastungszeugin auszugleichen. Das war offenbar der Plan, und er hätte beinahe funktioniert. In vielen anderen Fällen, die erfolgreich wiederaufgenommen wurden, ist er jedenfalls aufgegangen, so zum Beispiel im Fall von Ralf Witte oder im Fall des Biologielehrers Horst Arnold, die beide zu Unrecht im Gefängnis saßen. Selbst gravierende Zweifel an
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