RECKLESS HEARTS
spähte kurz zu Alex, der schweigend den Wagen lenkte. Dieser Typ hat mal so gar nichts von seinem Baba gehabt , dachte sie mitleidvoll. Verrückt, wie es immer auch noch schlimmer ging … Wieder blinzelte sie kurz zu ihm rüber, wie zufällig, sah danach schnell woanders hin und fragte sich irritiert, warum sie ihn gerade so angesehen hatte.
Der Gedanke kam prompt und überraschend: Er ist schön …
Da, bitte sehr, die Antwort, Selin! Was sagt man dazu ...
Er bog in die Weichselstraße ein und fuhr sie in gemäßigtem Tempo hoch. »Wo soll ich dich rauslassen?« Seine klare tiefe Stimme klang viel zu ernst. Selin sah auf die Straße vor sich und deutete mit dem Zeigefinger. »Noch ein Stück weiter oben. Nach der übernächsten Kreuzung.«
Da war sie also wieder. Da, wo vor vielen Jahren ihr Herz stehen geblieben war, und wo letzte Nacht ihr Gedächtnis einen Blackout erlitten hatte.
Als sie auf der Höhe ihres alten Wohnhauses angelangt waren, gab sie ihm ein Zeichen zu halten.
Alex warf einen Blick auf die Uhr: 8 Uhr 27.
»Willst du nicht vorher anrufen und deinen Leuten Bescheid sagen, dass du kommst?«, fragte er mit zusammengezogenen Augenbrauen. Seine Skepsis drückte schwer auf seine Stimme.
»Hm, was? Äh, nein, nicht nötig …« Unruhig griff sie nach ihrer Tasche wie nach einem Rettungsring. »Danke, Alex, dass du mich gefahren hast, und überhaupt warst du … sehr freundlich.« Sie streckte ihm die Hand zum Abschied entgegen. Überrumpelt nahm er sie an, lächelte ein klein wenig, so wie sie auch, nur ein klein wenig. Die kurze Berührung ihrer Hände machte beide merkwürdig verlegen. »Ähm, nein, hab das gern getan«, brachte er heraus und fügte hinzu: »Also dann, Selin, gute Besserung und pass … gut auf dich auf.« Er zog die Hand zurück und fuhr sich durch die Haare.
Der nächste Moment fühlte sich nicht gut an.
Würde jetzt jeder seiner Wege gehen und den anderen nie mehr wiedersehen? Er hätte ihr gern die Wahrheit über den Unfall erzählt, sich entschuldigt, ja, vor allem das. Er hätte aber auch zu gern mehr über sie erfahren … Die tiefe Entschlossenheit in ihren Augen berührte ihn auf eine seltsame Weise, ebenso diese Unruhe in ihr, die ihr Antrieb zu sein schien.
Nein, Schluss, es war gut, dass sie sich jetzt trennten. Er musste hier schleunigst weg, war Atilla, der ihn sicher gleich anrufen würde, eine Erklärung schuldig. Außerdem war heute hoffentlich Zahltag. Er würde sein Geld nehmen, den ‚Crime Artists‘ »Danke und tschüss« sagen und endlich bei seiner Mutter wieder nach dem Rechten sehen. Sicher glaubte sie längst, er wolle sich nicht mehr um sie kümmern und malte sich die schlimmsten Dinge aus.
Alex würde sich hinsetzen und einen Plan aufstellen, einen Masterplan, um Stück für Stück die Fesseln loszuwerden, die Sylvie mit jeder verzweifelten Fehlentscheidung in den letzten fünfundzwanzig Jahren sich und damit auch ihrem Sohn angelegt hatte.
Selin stand nun auf der Straße zwischen dem Minivan und einem parkenden Auto, blickte ein wenig gebeugt durch das Seitenfenster zu Alex und winkte ihm mit einem freundlichen Lächeln zu. Alex winkte knapp zurück, konnte aber nicht lächeln, nicht mal ein bisschen.
Der Minivan rollte an.
Selin sah ihm hinterher. Es war so kalt, dass ihr Atem vor ihrem Gesicht kondensierte, ihre Nasenspitze zu frieren begann und ihre Finger bereits steif wurden. Sie schlug ihren Kragen hoch und machte, dass sie von der Straße runterkam. Nun stand sie auf dem Gehweg gegenüber ihrem alten Wohnhaus. Fast ein wenig betrübt beobachtete sie weiter, wie der Wagen wendete und zurückfuhr. Tschau, wer immer du auch bist, dachte sie, erinnerte sich an die Situation im Fahrstuhl, als er sie auf seinen Armen getragen und sich vergeblich bemüht hatte, nicht in ihre Augen zu sehen. Seine Augen waren so hell und strahlend wie … ach …
Selin riss den Blick vom Minivan erst fort, als der fast schon nicht mehr zu sehen war, und richtete ihn auf den Balkon im obersten Stock des grauen Wohnhauses gegenüber.
Da, daneben, das Fenster zum Wohnzimmer, das Fenster zum Lüften, sie hatten orangefarbene Gardinen dran gehabt. Und wenn es dann aufgerissen war, hatte sie sich für ein paar Minuten herausgelehnt und das Treiben auf der Straße beobachtet.
Selin, kommst du runter? Wir gehen zu Balbadem Colagummis holen.
Irgendeins von den Kindern aus der Nachbarschaft hatte immer heraufgerufen, wenn sie den Kopf aus dem Fenster
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